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Liverpool Street

Liverpool Street

Titel: Liverpool Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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noch wenige, aber ich habe immer das Gefühl, dass sie mich schief ansehen, weil es mich eigentlich nicht geben dürfte. Und weil ich ihrer Meinung nach nicht einmal Jude bin, denn als Jude gilt für sie nur, wer eine jüdische Mutter hat.«
    »Ich habe nicht gewusst, dass man jüdisch werden kann«, staunte ich. »Bevor ich herkam, wusste ich nicht einmal, dass es Leute gibt, die es gerne sind!«
    »Was meinst du?«, gab er zurück. »Ist meine Mutter jüdisch? Bin ich es?«
    Er sah mich lächelnd an, aber ich spürte, wie angespannt er auf meine Antwort wartete.
    »Ich glaube schon«, überlegte ich. »Jedenfalls will ich erst jüdisch sein, seit ich euch begegnet bin. Ihr habt mich angesteckt, du und deine Mutter, und niemand kann einen anderen mit etwas anstecken, was er nicht selber hat. Klar seid ihr jüdisch«, sagte ich triumphierend. »Ich bin der Beweis!«
    Ich war selbst überrascht, als ich mich reden hörte, und hatte noch nicht zu Ende gesprochen, als ich auch schon wusste, dass ich diesmal das Richtige gesagt hatte. So war ich auch nicht gänzlich unvorbereitet, als Gary sich vorbeugte und mir einen Kuss gab, meinen ersten anderen Kuss, zwar nur auf die Wange, aber immerhin, meinen ersten zärtlichen, respektvollen Kuss von einem jungen Mann! Es fühlte sich an, als ob ich vierzehn wäre, mindestens. Jemand, den man etwas Wichtiges fragen konnte.
    Danach verschwand Gary leider ziemlich schnell – oder auch glücklicherweise, weil man ja befürchten musste, auch nur ein einziges zusätzliches Wort könne alles, was an diesem Moment besonders gewesen war, wieder ganz gewöhnlich machen.
    Ich ging zu Bett, sicher, dass ich in Gary verliebt war, sicher, dass die Antworten auf alle nur erdenklichen Fragen in mir selber steckten – und verwirrt, dass es Menschen gab, die alles aufgaben, mit ihren Familien brachen, Hass und Verachtung auf sich nahmen … nur um zu werden, was ich nie hatte sein wollen.
    Erst am nächsten Vormittag fiel mir auf, dass mein liebstes Ritual, das Nachtgebet, am Abend zuvor ausgeblieben war. Erschrocken sah ich zu Mrs Shepard auf, die in der Synagoge neben mir saß, doch obwohl sie es merken musste, erwiderte sie meinen Blick nicht, sondern schaute ernst von der Empore der Frauen in den Saal hinunter.
    Ich senkte die Augen, beschämt, niedergeschmettert. In meinem Hochgefühl nach dem Gespräch mit Gary hatte ich völlig vergessen, was ich zuvor getan hatte. Ohne mir auch nur einen einzigen Grund denken zu können, warum sie von ihren Schwiegereltern geschnitten wurde, hatte ich mich angeschlossen, hatte sie unsichtbar werden lassen, hatte für die ganze Dauer des Abends jegliche Verbindung zwischen uns abgebrochen. Ich, die doch nur allzu gut wusste, wie weh das tat!
    Während der Kantor unten im Saal den Gesang anstimmte, fiel mir die Zeit in der Schule ein, als die Kinder angefangen hatten, sich anders zu benehmen. Es hatte einige gegeben, die abseits standen, wenn Ruben, Bekka oder ich gepeinigt wurden, die nicht eingriffen, aber deren Gesichter deutlich zeigten, dass sie die Aktionen nicht guthießen. Waren sie auf unserer Seite gewesen? Mut, uns beizustehen, hatten sie jedenfalls nicht, und es dauerte nicht lange, bis sie sich von uns fernhielten, damit sie gar nicht erst sehen mussten, was passierte.
    Ich hatte diese Kinder verachtet. In meinen Augen waren sie schuld daran, dass unsere Peiniger sich ermutigt fühlten, immer neue Gemeinheiten für uns auszudenken.
    Und gestern Abend hatte ich genau dasselbe getan wie sie. Ich hatte weggesehen.
    Ich musste an Christine denken, die mir jedes Mal heimlich zugelächelt hatte, wenn wir uns begegneten, die nach der Pogromnacht ihren Mantel und ihr Frühstück mit mir geteilt hatte. Sie war vorsichtig gewesen, sie musste große Angst gehabt haben, dabei erwischt zu werden – und doch hatte sie es riskiert.
    Und ich? Ich hatte mich nicht einmal bedankt. Ich hatte ihren Mantel unbemerkt an die Stelle hinter den Mülltonnen zurückgelegt, war davongeschlichen und hatte mich um meine eigenen Dinge gekümmert. Bald darauf hatten wir die Wohnung verloren, Christine hatte ich nicht wiedergesehen, auch im Treppenhaus nicht. Erst jetzt, als ich selbst weggesehen hatte, erkannte ich, was sie für mich getan hatte und dass Christine der mutigste Mensch gewesen war, den ich in Deutschland gekannt hatte.
    Mit brennenden Augen sah ich nochmal zu Mrs Shepard auf, so lange, bis ich merkte, dass sie unruhig wurde und es ihr schwerfiel,

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