Liverpool Street
so zu tun, als bemerkte sie meinen Blick nicht.
Ich mache es wieder gut!
Hatte ich es laut gesagt? Und wenn schon. Bald würden wir mit den Großeltern am Mittagstisch sitzen, und diesmal würde ich ihr zu Hilfe kommen!
Julia Shepard saß auf meiner anderen Seite, eine kühle Präsenz an meinem linken Arm. Ich merkte sofort, dass es besser war, bis zum Mittagessen nur wenig an sie zu denken. So wenig wie möglich. Vorzugsweise überhaupt nicht.
Während die Sedertafel betont schlichte Speisen enthalten hatte, war für den eigentlichen Pessachtag das Festmahl vorgesehen. Nie hatte ich Köstlicheres gegessen als Mrs Shepards Braten, doch natürlich kam ihren Schwiegereltern kein Wort des Lobes über die Lippen.
Oder überhaupt irgendein Wort. Langsam wurde ich unruhig. Nicht, dass ich wollte, dass Mrs Shepard angegriffen wurde, aber wie sollte ich ihr beistehen, wenn gar nichts passierte?
Als der Hauptgang sich dem Ende näherte, wurde mir klar, dass ich mich verrechnet hatte. Es würde keine bösen Worte mehr geben, nur ein eisiges, schweigendes Mahl, dann würden die Großeltern nach Hause fahren. Ich hätte am Abend zuvor helfen können, mit einem Blick, einem Lächeln. Ich würde keine zweite Chance bekommen.
Es war eine meiner dunkelsten Stunden in diesem Haus. Mit jedem Bissen von meinem Teller fielen mir immer neue gute Dinge ein, die ich mit Mrs Shepard erlebt und durch meine Feigheit verraten hatte. Bis der Nachtisch hereingetragen wurde, war ich schon so verzweifelt, dass ich meine kleine Glasschüssel am liebsten an die Wand geschleudert hätte. Dr. Shepard hob die Schale mit dem Dessert und sprach den Segen. Lieber Gott, vergiss das blöde Dessert, hilf lieber mir! , flehte ich stumm.
Und in der nächsten Sekunde wusste ich es!
»Entschuldigung«, murmelte ich halblaut. Meine Knie wurden weich beim Aufstehen. Ich huschte in den Flur, an den Garderobenspiegel. Meine Finger zitterten. Ich hätte es auch am Tisch tun können, aber ich wollte es sehen, ich wollte mich sehen, vorher und nachher. Ich sah mich bestimmt eine volle Minute im Spiegel an, bevor ich schließlich ins Esszimmer zurückging.
Julia Shepard gab ein kleines entsetztes Keuchen von sich, noch bevor ich mich ihr gegenüber gesetzt hatte. Als die anderen erst vom Essen aufblickten, hatte sie schon alles begriffen. Da war er wieder, dieser Blick, mit allem, was dazugehörte und was ich jahrelang gehasst und gefürchtet hatte.
Und ich fühlte – nichts. Keine Wut, keine Angst, ich starrte einfach zurück und merkte, dass er mir nichts mehr anhaben konnte. Denn das war ICH.
»Was soll das?«, fragte Julia Shepard heiser.
»Das ist ein Kreuz, Mutter«, antwortete Dr. Shepard leise. »Die Nazis verfolgen auch assimilierte Juden, hast du das nicht gewusst?«
»Ihr habt eine Christin ausgesucht?«, zischte sie. »Unter Tausenden jüdischer Flüchtlingskinder, die in unser Land kommen, habt ihr eine Christin ausgesucht?« Sie fuhr wütend zu ihrer Schwiegertochter herum. »Das haben wir doch wohl sicherlich dir zu verdanken!«
»Mum war nicht einmal dabei«, protestierte Gary.
Mrs Shepard richtete sich auf für die ersten Worte, die sie überhaupt in dieser Runde sprach, und erklärte mit Entschiedenheit: »Wenn ich dabei gewesen wäre, hätte ich sie ausgesucht.« Und obwohl ich mich genau erinnerte, dass es anfangs ganz anders zwischen uns gewesen war, merkte ich, dass sie nicht log, sondern nur etwas bestätigte, was ich längst wusste: dass sie mich, nachdem wir einander kennengelernt hatten, jederzeit wieder ausleihen würde.
»Wenn meine Eltern nach England kommen«, sagte ich zu ihr, »will ich beides. Dann gehe ich in die Synagoge und in die Kirche.«
»Du kannst noch etwas anderes probieren«, erwiderte sie lächelnd. »Es gibt in London eine Kirche, in der sich Juden treffen, die an Jesus glauben. Man nennt sie messianische Juden.«
»Ist das wahr?«, staunte ich.
»Aber ja! Wir fahren dich sonntags gern einmal hin, wenn du willst.«
»Und Hebräisch«, fiel mir ein. »Hebräisch lerne ich auch.«
Garys Großeltern schauten von einem zum anderen, ohne etwas zu sagen.
»Du kannst nachmittags in die Sederschule in der Synagoge gehen«, meinte Dr. Shepard.
»Da war ich auch«, mischte sich Gary ein. »Und keine Sorge, es ist nur zweimal die Woche.«
»Marcus«, sagte seine Großmutter und legte ihre Serviette ab, »ich glaube, wir gehen.«
Die beiden Alten erhoben sich. Ich sah, wie Julia Shepard bebte. Auf
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