Liverpool Street
Amanda. »Diese Woche noch nicht? Aber Frances, sie warten darauf!«
»Glaub ich nicht. Sie haben ganz andere Sorgen. Ob ich ihnen vier Seiten schreibe oder gar nicht … Mamus Briefe klingen immer, als ob sie meine gar nicht liest.«
»Das ist ja der größte Blödsinn, den ich je gehört habe!«, erwiderte Amanda ärgerlich. »Deine Mutter denkt ständig daran, was du gerade machst, das kannst du mir glauben! Und deshalb gehst du jetzt auf der Stelle in dein Zimmer und schreibst nach Hause!«
Das war die andere Seite meiner Pflegemutter: Sie konnte sehr schnell sehr streng werden, und dann machte es überhaupt keinen Sinn, sich gegen sie zu stellen. Abgesehen davon, dass ich es gar nicht vorhatte; zu sehr hoffte ich, dass ihre Behauptung stimmte. Mit neuem Mut setzte ich mich an meinen Schreibtisch, schaute in das frische Grün des Baumes vor dem Fenster und schrieb einfach drauflos.
Langsam wurde es Zeit, dass einer von uns anfing, die Wahrheit zu sagen!
London, 29. Mai 1939. Liebste Mamu, liebster Papa, nun bin ich schon vier Monate in England, es wird langsam Sommer und ich habe noch immer keine gute Nachricht für euch. Leider ging es mir in den letzten sechs Wochen nicht so, dass ich Haustürbesuche machen konnte, aber bald ziehe ich wieder los. Es gibt noch eine Menge Straßen in Finchley!
Heute möchte ich euch einfach mal ganz ehrlich erzählen, wie es mir geht.
Papa, ich finde es nicht schön, dass du mir gar nicht schreibst. Du unterschreibst immer nur die Briefe von Mamu. Kannst du vielleicht gerade nicht schreiben? Geht es dir so schlecht? Dann möchte ich, dass ihr mir sagt, dass das der Grund ist!
Aber ich hoffe, dass es dir gut geht, Papa, und dass es einen anderen Grund hat!
Mamu, ich würde gern wissen, wie du darüber denkst, was ich euch schreibe. Ich weiß, dass es nichts Besonderes ist, aber wenn du fast nie etwas dazu sagst, weiß ich bald nicht mehr, was ich schreiben soll. Außerdem will ich noch sagen, dass ich mit Bekka zerstritten bin. Vielleicht fragst du sie mal, was sie zu mir gesagt hat und warum wir uns nicht schreiben! Dann findest du sie bestimmt nicht mehr so außergewöhnlich.
Frau Liebich habe ich nur umarmt, weil ich mit Bekka zerstritten bin.
Ich vermisse euch. Kommt bald!! Tausend Küsse, eure Tochter Ziska (Frances).
Es würde nur eine kleine Geburtstagsgesellschaft werden – Gary, seine Eltern und ich, dazu Walter – und obendrein mehrere Tage zu spät stattfinden. Doch unser Trumpf war das herrliche Wetter, das sich am dritten Sonntag im Juni zeigte und meine Pflegeeltern auf die Idee brachte, einen Picknickkorb zu packen und in den Regent’s Park zu fahren. Wir würden einen Umweg machen und Walter im East End abholen, und ich hoffte, dass es die Situation für ihn entspannte, die Shepards auf einer Picknickdecke und mit Ameisen im Essen kennenzulernen.
Walter wartete am »Kino« auf uns, wie er die alte Turnhalle nannte. Er hatte sich ziemlich fein gemacht, trug einen etwas zu großen Anzug und ein kariertes Hemd und wurde knallrot, als er den Shepards reihum durch die offenen Wagenfenster die Hand gab. Dann kam er zu Gary und mir auf den Rücksitz und ich saß selig in der Mitte zwischen meinen beiden Freunden.
»Happy birthday«, sagte Walter scheu und reichte Gary über mich hinweg ein winziges, in Zeitungspapier verpacktes Geschenk.
»He, danke!«, freute sich Gary, der das Päckchen sofort aufriss. Walter hatte ihm eine Gürtelschnalle besorgt und ich war ahnungslos gewesen, wie dringend Gary eine gebraucht hatte – er geriet fast ein wenig aus dem Häuschen darüber. »Toll, seht mal, eine Gürtelschnalle!«, begeisterte er sich. »Ich weiß schon genau, wozu ich die tragen werde!«
Der arme Walter wusste vor Verlegenheit nicht, wohin er gucken sollte. Sein Blick zuckte in dem engen Auto ein paarmal nervös hin und her, prallte schließlich frontal und ungeschützt auf Amandas Lächeln und es dauerte eine volle Minute, bis ich ihn danach wieder atmen hörte.
So geht das nicht, dachte ich besorgt. Als wir später im Park unsere Decke ausbreiteten und Walter ein paar Schritte von uns weg auf den See zuschlenderte, zischelte ich den drei Shepards zu: »Ihr dürft nicht gleich so nett sein! Benehmt euch, als ob er gar nicht da wäre!«
Sie waren zutiefst verblüfft. »Aber er ist doch unser Gast, Frances!«
»Das mag schon sein«, erwiderte ich stirnrunzelnd, »aber wer lange gehungert hat, kann nicht sofort eine ganze Torte
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