Liverpool Street
essen.«
Die drei sahen sich an und brachen gleichzeitig in unterdrücktes Gelächter aus. Bis Walter zurückkam, hatten sie meine Botschaft aber wohl verstanden, denn Gary fragte: »Hat jemand Lust, mitzukommen und ein Boot zu leihen?«, und nach kurzem Zögern ging Walter von sich aus mit ihm über den Rasen davon.
»Möchtest du nicht mit?«, fragte Amanda verwundert.
»Eigentlich schon«, gestand ich. »Aber ich glaube, es ist besser, sie gehen allein.«
Ich ließ mich mit meinen Pflegeeltern auf der Decke nieder, rückte meinen Strohhut zurecht und fühlte mich enttäuscht (die Jungen hätten zumindest fragen können!) und aufopferungsvoll zugleich, insgesamt kein allzu schlechtes Gefühl. Es dauerte auch nicht länger als zehn Minuten, bis ihr Ruderboot sich über den See näherte und wenige Meter von uns entfernt am Ufer hielt. »Auf geht’s, Mum! Frances! Eine kleine Runde vor dem Essen!«, rief Gary, der sich mit Walter die Ruder teilte.
Ich sprang auf. »Möchtest du nicht mit?«, fragte Onkel Matthew seine Frau.
»Ach …«, Amanda streckte sich träge und warf mir einen ziemlich bedeutungsschweren Blick zu. »Eigentlich schon. Aber ich glaube, es ist besser, sie geht allein.«
Im Bug des Bootes sitzend, von der Sonne beschienen und von meinen beiden besten Freunden gerudert … an diesem Tag kam ich meiner Vorstellung von Glückseligkeit schon ziemlich nahe. Noch schöner wäre gewesen, ich hätte die Ellenbogen aufstützen, mich wie eine Dame zurücklehnen und in Szene setzen können, aber der Abstand zwischen Sitz und Bugwand war für mich zu groß, sodass ich ziemlich unvorteilhaft zwischen die Planken gefallen wäre. So beschränkte ich mich darauf, gerade zu sitzen und den Ruderern zuzulächeln, wie es nach meiner Ansicht von der einzigen Dame an Bord erwartet werden konnte.
Am Ufer des Sees herrschte lebhaftes Treiben. Die Londoner zog es in Scharen in den Park; da waren Familien mit Picknickkörben, Kinder, die am Eiswagen anstanden und vornehme Herrschaften, die von ihren Butlern bedient wurden. Im Hintergrund erhoben sich elegante Stadtvillen, es gab ein kleines Orchester, das irgendwo spielte, und in den Pausen zwischen den Musikstücken konnte man die Seehunde im nahen Zoo bellen hören. Die Rasenflächen dienten Kindern als Spielplatz und Erwachsenen als Kricketfeld, und ein paar ganz Mutige sah man sogar zu den Schwänen ins Wasser steigen.
Walter und Gary saßen nebeneinander in der Bootsmitte, ruderten gemächlich und unterhielten sich mit einiger Mühe. Mehrmals half ich mit einem deutschen oder englischen Wort aus, bis sich Gary plötzlich mitten im Satz unterbrach und meinte: »Mensch, Frances, es ist nicht zu glauben, wie gut dein Englisch geworden ist.«
»Ich bin ja auch schon fast fünf Monate in England«, erwiderte ich bescheiden.
»Ich auch«, sagte Walter. »Aber da, wo ich bin, werde ich es wohl nie richtig lernen.«
»Wir müssen dich aus diesem sweatshop herausholen!«, bestimmte Gary. »Lass uns mal mit meinen Eltern reden. Vielleicht kannst du im Kino mitarbeiten. Hinter der Kasse gibt es ein Zimmer, in dem mein Vater den Bürokram macht. Dort könntest du wohnen!«
Walter schüttelte den Kopf. »Mein Vater würde das niemals erlauben.«
»Wie alt bist du? Sechzehn? Fünfzehn? Eltern müssen sich damit abfinden, dass Kinder irgendwann eigene Entscheidungen treffen«, sagte Gary mit einer grimmigen Entschlossenheit, die nur bedeuten konnte, dass ihm nicht nur Walters Anliegen im Kopf herumging.
»Hast du schon von der Navy gehört?«, fragte ich.
»Jawohl!« Ein breites Grinsen überzog sein Gesicht. »Sie nehmen zwei Bewerber aus meiner Klasse auf – von einundzwanzig, die die Prüfung mitgemacht haben.«
»Und? Bist du dabei?«
»Na, was hast du denn gedacht?«, erwiderte Gary vergnügt. »In sechs Wochen geht es los. Mir wird erst jetzt klar, welch große Ehre das ist. Die Royal Navy nimmt nur die Besten, und ich bin dabei!« Sein zufriedener Blick wanderte über den See, traf auf Amanda und Onkel Matthew und umwölkte sich sofort. »Aber ich hasse es, ihnen das anzutun«, murmelte er.
Walter blickte mich fragend an. »Gary geht zur Marine, aber seine Eltern wissen es noch nicht«, klärte ich ihn auf.
Wieder sahen wir zu den Shepards hinüber, die uns jetzt ebenfalls erspäht hatten und vergnügt winkten. Walter pfiff leise durch die Zähne. Die Jungen zogen die Ruder ein, glitten seitlich auf den Bootssteg zu und Gary griff nach den Haken,
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