Liverpool Street
»Notwochen« bei Tante Ruth hatten Mamu und ich nie gekuschelt und ich war mir ziemlich sicher, dass wir auch nicht mehr damit anfangen würden, wenn sie endlich wieder bei mir war.
Ich wusste selbst nicht, warum es mit Amanda so anders war. Vielleicht hatte es damit zu tun, dass sie viele Kinder hatte haben wollen und dem Leben nur ein einziges abgetrotzt hatte und dass all die ungenutzte Liebe auf ein Bedürfnis in mir getroffen war, das ich bisher nicht einmal geahnt hatte. Dass es ein gegenseitiges Entzücken war, machte die Sache in meinen Augen umso rätselhafter. Ich ertappte mich dabei, wie mir mehr und mehr Dinge gelangen, wie ich schon beinahe anfing, mich selbst zu mögen.
Wie es mir nicht einmal etwas ausmachte, im Hebräischunterricht das einzige Mädchen unter lauter Jungen zu sein, die sich auf ihre Bar Mizwa vorbereiteten! Amanda hatte gehofft, ich fände dort eine Freundin, aber wie es aussah, würde sie bis auf Weiteres nicht nur Mamus, sondern auch Bekkas Vertretung übernehmen müssen. Vielleicht hatte sie mir deshalb vorgeschlagen, die »Tante« wegzulassen. Amanda nur beim Vornamen zu nennen, besetzte sämtliche zurzeit offenen Stellen in meinem Leben: Mutter, Tante, Schwester, Freundin.
Erst letzte Woche hatten wir ein ausführliches Gespräch in Sachen Walter geführt. Wir hatten diskutiert, warum er nicht auf meine Einladungen reagierte, ob es überhaupt Sinn machte, mich um ihn zu bemühen und wie weit ich gehen konnte, ohne mich selbst zu beschämen. Ich hatte Amanda erklärt, dass mir sehr viel an Walter lag, obwohl ich natürlich in Gary verliebt war, und erst an dem Punkt war mir zu meinem Schreck eingefallen, dass sie ja Garys Mutter war und mein Bekenntnis einigermaßen unpassend finden könnte. Aber nein, sie hatte nur erwidert, sie selbst sei froh, nie zwischen zwei Männern gestanden zu haben, für sie habe es immer nur Matthew Shepard gegeben, aber sie könne sich vorstellen, welch großes Dilemma das für mich sein müsse.
In meinem ganzen Leben hatte ich mich noch nie so ernst genommen gefühlt.
Amanda war es auch gewesen, die die großartige Idee gehabt hatte, Wolter zu einem konkreten Anlass einzuladen, nämlich zu Garys Geburtstag im Juni. Und ich wollte es kaum glauben: Heute war seine Antwort in der Post gewesen. Er würde kommen.
Ich schloss die Augen, als die noch blasse Maisonne zwischen den Wolken hindurch einen kleinen Strahl in mein Gesicht fallen ließ. Es war noch nicht sehr warm, aber würde es bald sein. Vor mir lag der Sommer 1939 mit all seinen Verheißungen.
»Frances, komm dir ansehen, was ich gekauft habe!«, riss mich Amandas Stimme aus meinem Tagtraum.
Sie entledigte sich gerade ihres Hutes, als ich durch die Gartentür in die Küche schlüpfte. Unter dem Hut kam ihr echtes Haar zum Vorschein, das sie seit Pessach nachwachsen ließ. Anfangs war noch die eine oder andere launige Bemerkung zwischen ihr und Onkel Matthew gefallen, welche Art Perücke sie sich nach meinem Brandanschlag besorgen sollte, aber anscheinend war er sowieso immer dagegen gewesen! Seitdem trug sie einen Hut oder ein ziemlich ausgefallenes Strickmützchen. Wenn wir unter uns waren, setzte sie ihre Kopfbedeckung einfach ab.
Zu zweit zogen wir das große Paket in die Küche, das der Taxifahrer zusammen mit einigen weiteren Tüten und Päckchen im Flur abgeladen hatte, entfernten das Packpapier und bewunderten den fein gearbeiteten grauen Lederkoffer, der darunter zum Vorschein kam.
»Es wird so seltsam sein, wenn er in Oxford ist«, murmelte Amanda und strich über das weiche Leder. »Anfangs wird er wenigstens in den Semesterferien nach Hause kommen, aber irgendwann ist auch das vorbei, dann wird er mit seinen Freunden durch Europa reisen und uns nur noch Postkarten schreiben.«
Oh weh, dachte ich. Er hat es ihnen noch immer nicht gesagt!
»Dabei ist es genau das, was wir von unseren Kindern wollen«, seufzte Amanda. »Wir ziehen sie auf, damit sie groß werden, fortgehen und uns das Herz brechen.«
Sie warf einen Blick auf mich und erschrak, sodass ich im ersten Augenblick schon befürchtete, Garys Geheimnis habe sich verräterisch quer über meine Stirn gemalt. Aber zum Glück hatte sie lediglich meinen unglücklichen Gesichtsausdruck missverstanden.
»Herrje, es tut mir leid, wie konnte ich so etwas Dummes sagen? Bei deinen Eltern verhält es sich natürlich vollkommen anders!«
»Schon gut«, murmelte ich betreten.
»Hast du ihnen eigentlich geschrieben?«, forschte
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