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Liverpool Street

Liverpool Street

Titel: Liverpool Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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damit ich als Erste aussteigen konnte.
    »Na, was ist, worauf wartest du?«, fragte er.
    Ich bewegte mich nicht. Auf einmal sträubte sich alles in mir, das Boot zu verlassen. Natürlich nahm ich mich zusammen und tat es doch, aber mir war, als ob mit diesem einen kleinen Schritt der Sommer, der gerade erst begonnen hatte, wieder zu Ende gehen könnte.
    Amanda und Onkel Matthew hatten bereits Teller und Becher auf der Picknickdecke verteilt. Es gab Sandwiches, kaltes Huhn, Obst, Pudding, Karottenkuchen und keine Ameisen, weil es zu früh im Jahr war. Zu Beginn der Mahlzeit bekamen wir reihum eine kleine brennende Kerze in die Hand und wünschten Gary Gutes für das neue Lebensjahr: Klugheit und Weisheit auch über das Schulabgangszeugnis hinaus, so Onkel Matthew augenzwinkernd, und auf der Universität treue Freunde, gute Lehrer und eine gesunde Küche. Das war Amandas froher Wunsch, und als Walter sagte: »Dass du niemals ins Wasser fällst«, lachten auch noch alle, weil sie einfach keine Ahnung hatten.
    Es war schwer, meinen Wunsch für Gary zu finden, ohne etwas von dem zu verraten, was er noch zu beichten hatte. »Ich wünsche dir, dass du immer die richtigen Worte findest«, sagte ich schließlich und hielt unter dem Beifall der anderen mein kleines Wörterbuch hoch, das ich noch immer mit mir herumtrug, obwohl ich es kaum mehr benutzte.
    Gary selbst wollte die Kerze danach ebenfalls halten, denn auch er habe einen Wunsch für sich: »Ich wünsche mir«, sagte er und blickte Amanda und Onkel Matthew ernst an, »dass ihr immer meine wunderbaren Eltern bleibt, auch wenn ich euch manchmal enttäusche.«
    Da wurden wir alle still und ich musste daran denken, dass Amandas und Onkel Matthews Eltern ihre Kinder verstoßen hatten, als sie kaum älter gewesen waren als Gary. Aber der Moment war rasch vorbei, und bis wir vom Essen zum Spielen übergingen, hatte ich auch die seltsame Vorahnung vergessen, die mich beim Aussteigen aus dem Boot beschlichen hatte.
    Offenbar war es in englischen Parks nichts Besonderes, dass erwachsene Leute »Blindekuh« und Verstecken spielten. Niemand achtete auf uns, nur als Gary den Versuch machte, sich zwischen völlig fremde Menschen auf deren Decke zu setzen, gab es ein wenig Ärger.
    Ich selbst, im früheren Leben gelernte Versteckerin, stellte überrascht fest, welch großen Spaß es machen konnte, sich finden zu lassen! Meine Verstecke waren so leicht zu entdecken, dass die anderen mich zunächst absichtlich übersahen, damit ich mir nicht etwa blöd vorkam. Nach kurzer Zeit hatten Amanda und Onkel Matthew mein falsches Spiel allerdings durchschaut; sie schlichen sich so auffällig an, dass ich vor Lachen fast platzte, um mich dann endlich zu packen, an sich zu drücken und an den Abschlagplatz zu schleppen.
    Ich weiß auch nicht, wieso es passierte. Ich stand hinter einem Baum und schielte zu Walter, der mit dem Suchen an der Reihe war, als mich urplötzlich von hinten jemand packte und umklammerte, und da knallte auch schon der dunkle Blitz vor meinen Augen. Ein dunkler Blitz – ich hatte gar nicht gewusst, dass es so etwas gibt, aber einen Moment sah ich die Welt in Schwarz-Weiß, etwas raste durch meinen Körper wie eine fremde Kraft und explodierte. Jemand hielt mich an der Jacke fest, lief noch zwei, drei Schritte mit, dann war ich frei, vorbei am Teich, sprang über fremde Picknickdecken, rannte über das Kricketfeld.
    Erst am Eingang zum Zoo kam ich wieder zur Besinnung. Ich hatte den halben Park durchquert. Meine Jacke war auch weg. Keuchend sah ich mich um und versuchte mich zu erinnern, woher ich gekommen war. Nur langsam kehrte die Erinnerung zurück. Garys Geburtstag. Das Spiel. Der Baum. Was war bloß mit mir geschehen?
    Verwirrt ging ich quer über den Rasen zurück. Auf halbem Wege kamen mir die Shepards schon entgegen, Gary hielt meine Jacke in der Hand. »Frances, tut mir leid, ich wollte dich nicht erschrecken, ich habe nicht nachgedacht …«
    Kreidebleich gab er mir die Jacke zurück und ich entdeckte, dass die Knöpfe abgerissen waren. Verblüfft befühlte und untersuchte ich sie, bis Amanda sie mir über die Schultern legte und mich zu unserem Platz zurückführte.
    Walter hatte an der Picknickdecke die Stellung gehalten und drückte mir die Knöpfe in die Hand, die er vom Rasen geklaubt hatte. »Mit Reißverschluss wäre das nicht passiert«, sagte er und ich musste so laut lachen, dass die Shepards noch eine Spur bleicher wurden.
    »Das muss

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