Liverpool Street
aufhören!«, erklärte Gary mit ganz fremder Stimme. »Die ständige Angst, das Weglaufen, das Warten, dass sich alles von selbst beruhigt. Wir müssen endlich anfangen, uns zu wehren! Ich werde wohl keinen besseren Zeitpunkt finden, es euch zu sagen. Mum, Dad … ich gehe nicht nach Oxford. Ich gehe zur Royal Navy, und zwar schon diesen Sommer.«
Ich hielt den Atem an. Garys Eltern standen wie vom Donner gerührt. Dann sagte Onkel Matthew: »Nun, ich kann verstehen, wie man als junger Mensch zu solchen Gedanken kommt. Aber ich hoffe, ich brauche dir nicht zu sagen, Gary, dass spontane Entschlüsse nur sehr selten für die Zukunft taugen.«
»Es ist kein spontaner Entschluss. Ich habe die Aufnahmeprüfung bestanden.«
»Die Aufnahmeprüfung? Du willst sagen, du hast das hinter unserem Rücken schon alles geregelt?«, fragte Onkel Matthew leise.
Währenddessen beobachtete ich Amanda mit wachsender Sorge. Unterschiedliche Gefühle spiegelten sich in schneller Folge auf ihrem Gesicht – Unglauben, Erschrecken, Angst, Wut. »Hört auf! Seid sofort still! Darüber brauchen wir gar nicht erst zu reden!«, stieß sie hervor.
»Wie deine Eltern, Mum? Ich habe andere Pläne als ihr, und wir brauchen darüber gar nicht erst zu reden?«, erwiderte Gary.
Amanda zuckte zusammen. »Komm schon, ich weiß, dass ihr mir das nicht antut«, sagte Gary nervös. »Natürlich erwarte ich nicht von euch, dass ihr Ja sagt, aber ich erwarte, dass ihr mich unterstützt, weil ihr wisst, wie es ist!«
»Das war nicht nötig, Gary«, wies ihn sein Vater scharf zurecht.
»Was, wenn es einen Krieg gibt?«, fuhr ihn Amanda an.
»Dann ziehe ich in den Krieg, und dann komme ich zurück, und dann gehe ich auf die Universität. Mum«, fügte Gary eindringlich hinzu. »Ich würde das doch nicht tun, wenn ich glaubte, dass ich sterben könnte!«
Sie taumelte, als hätte ihr jemand einen Schlag versetzt, drehte sich noch im Zurückstolpern um und lief über den Rasen davon. »Verdammt!«, fluchte Gary verzweifelt und rannte hinter ihr her, gefolgt von Onkel Matthew. Walter und ich blieben allein mit dem Picknickkorb, der Decke und einer Handvoll Knöpfe.
»Ich glaube, er hat Recht.« In knappen Sätzen erzählte ich Walter, was ich seit wenigen Wochen über meine Pflegeeltern wusste. »Sie lieben Gary sehr. Sie werden akzeptieren, was er möchte.«
»Vielleicht«, meinte Walter nachdenklich. »Ganz sicher ist aber, dass sie auch dich lieben müssen. Du hättest ihre Erschütterung sehen sollen, als du in Panik geraten bist!«
»So?«, fragte ich, hin und hergerissen zwischen freudigem Erstaunen und einer gewissen Gekränktheit über das Wort Panik.
Aus der Entfernung beobachteten wir, wie Gary und seine Eltern diskutierten. »Aber er ist schon ein wenig naiv, oder?«, meinte Walter und schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung vom Krieg … und vom Sterben schon gar nicht.«
»Wir hoffen, du besuchst uns bald zu Hause, Walter.« Amanda gab ihm als Letzte die Hand, als wir ihn bei der Rückkehr aus dem Park vor dem Kino absetzten.
»Mach ich bestimmt. Danke für den schönen Tag!« Walter hob die Hand und winkte uns nach.
»Ein feiner Kerl«, meinte Gary aufgeräumt. »Meine Sachen vom letzten Jahr könnten ihm passen, was meinst du, Mum?«
»Sie hätten ihm sicher gepasst, wenn ich sie nicht schon in die Kleiderspende gegeben hätte.«
Amanda klang müde. In den drei Stunden, die seit Garys Ankündigung vergangen waren, hatten er und sie sich solche Mühe gegeben, normal miteinander umzugehen, dass es langsam an den Kräften zehrte und ich es schlimmer zu finden begann als den eigentlichen Streit. Gary hielt sich nach unserer Rückkehr auch nicht lange zu Hause auf, er packte seine Sachen in den schönen neuen Koffer und es war Onkel Matthew, der ihn ins Internat zurückfuhr, und nicht wie sonst seine Mutter.
Als ich die Haustür hinter ihnen geschlossen hatte und die Treppe hinauf in mein Zimmer ging, hatte ich das Gefühl, mein Herz wie ein bleischweres Gewicht mit mir herumzuschleppen.
»Frances?« Ich drehte mich um. Amanda stand in der Tür. »Du hast davon gewusst, oder?«
Plötzlich bekam ich Angst. »Gary weiß auch ein Geheimnis von mir«, flüsterte ich. »Ich sage es dir, wenn du willst.«
Ich setzte mich aufs Bett. Amanda lächelte schwach. »Nicht nötig. Wir haben ein Abkommen mit Deutschland, es wird keinen Krieg geben. Hitler schätzt England, und Chamberlain hat nicht die Absicht, die Deutschen herauszufordern.
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