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Liverpool Street

Liverpool Street

Titel: Liverpool Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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eine fremde Hand hatte etwas daneben geschrieben. »Empfänger unbekannt verzogen«, stand da.
    Ein paar Bilder der nächsten sechzehn Stunden sind noch in meinem Kopf: ich zitternd im Bett, Amanda, die mich wie ein Baby wiegt, Onkel Matthew am Telefon mit Deutschland, auf der Suche nach Theodor Todorovski, einem Bekannten meiner Eltern, der zuletzt noch ein Telefon gehabt hatte. Liebichs hatten längst keins mehr, Tante Ruth und Onkel Erik hatten nie eins besessen – und selbst wenn, hätte uns das wenig genützt, denn sie mussten ja mit meinen Eltern zusammen verschwunden sein, sonst hätten sie meinen Brief sicherlich angenommen.
    Verschwunden. Mein Kopf, meine Brust, mein Bauch, alles bestand nur noch aus diesem einen Wort.
    Der Brief kam am nächsten Morgen. Mamus Handschrift, eine fremde Briefmarke. »Sie sind in Shanghai«, flüsterte ich. »In Shanghai und haben mir nichts gesagt!«
    »Er ist nicht aus Shanghai, sondern aus Holland!« Hastig riss Amanda den Umschlag auf und reichte mir zwei eng beschriebene Seiten, die sofort vor meinen Augen verschwammen. »Ach, Frances, wie wunderbar, sie haben es geschafft, sie sind draußen!«
    Ich riss die Blätter an mich und schleuderte sie quer durch den Raum. »Sie haben es mir nicht gesagt!«, brüllte ich Amanda ins Gesicht.
    Verstört hob sie den Brief auf. »Aber Schatz, wahrscheinlich kamen sie gar nicht mehr dazu! Lies doch erst mal, was los ist.« Sie legte mir den Brief auf die Bettdecke, sah mich noch einmal aufmunternd an und ließ mich allein.
    Ich blickte auf die Seiten in meiner Hand und versuchte die Erinnerung an die letzte Nacht beiseitezuschieben, Raum zu schaffen für das, was der Brief bedeutete. Meine Eltern waren nicht mehr verschwunden. Sie waren in Sicherheit. Sie waren dort, wo man bei der Ankunft Körbe voll Schokolade bekam.
    Und: Sie sagten es mir erst jetzt. Sie hatten nicht darauf gewartet, zu mir kommen zu können. Sie waren in einem anderen Land.
    Groningen, 27. Juni 1939. Ziskele, mein Liebling, wenn du diesen Brief zu lesen anfängst, hast du die Überraschung ja schon gesehen: Papa und ich, Tante Ruth, Onkel Erik und die Kleinen sind in Holland! Wie genau es passiert ist, werde ich dir später erzählen – jemand könnte den Brief lesen und die Fluchthelfer auffliegen lassen. Nur so viel: Es ging bei Nacht über die Grenze und wir haben den Kleinen ein Schlafmittel gegeben, damit sie still waren.
    Seit drei Tagen leben wir also im Hotel, zu fünft in einem Zimmer. Papa ist seit gestern in einem Sanatorium, wo er sofort ein Bett bekommen hat und versorgt wurde. Die Holländer schicken geflüchtete Juden nicht zurück nach Deutschland. So richtig begreifen können wir es noch nicht. Gestern bin ich Bus gefahren, auf einem Sitzplatz mitten unter Holländern, weil ich mich erinnern wollte, wie es ist. Eine kostbare Fahrkarte für ein Experiment!
    Unsere finanzielle Lage ist prekär – Fluchthelfer lassen sich teuer bezahlen! Aber Erik und ich haben Hoffnung, den Sommer über bei Obstbauern arbeiten zu können.
    Ich schreibe dir auch Papas Adresse auf. Bitte schreib ihm ganz oft! Er braucht unsere Unterstützung, um wieder gesund zu werden. In diesem wunderbaren Land wird er es ganz sicher, davon bin ich überzeugt.
    Ziskele, aus unserem Plan, dich schnell wiederzusehen, wird nun vorerst nichts. Angesichts unserer provisorischen Situation bist du bei deinen Pflegeeltern besser untergebracht, die dich sehr mögen und sicher mit sich reden lassen, dich noch ein Weilchen zu behalten. Aber inzwischen können wir uns sagen, dass wir nur noch wenige Kilometer Luftlinie voneinander entfernt sind, und das ist doch fast so gut, als wären wir schon wieder beisammen! Eines Tages! So grüßt, umarmt und küsst dich deine heute sehr glückliche Mamu.

    Linker Strumpf, rechter Strumpf, Rock, rechter Ärmel, linker Ärmel. Ich brauchte an diesem Morgen meine volle Konzentration, um mich anzuziehen, hielt im Bad minutenlang die Hände unters kalte Wasser und starrte dabei mein eigenes Bild im Spiegel an. Als ich zum ersten Mal hier gestanden hatte, war das Bild knapp oberhalb meines Kinns zu Ende gewesen, jetzt konnte ich schon ein Stück vom Hals sehen. Ich war mehrere Zentimeter gewachsen, seit ich bei den Shepards war.
    Mehrere Zentimeter, die Mamu von mir noch nicht kannte. Wie viele sollten es denn noch werden? Auf dem Badewannenrand lag ihr Brief. An der Handschrift, den vielen Schnörkeln und tanzenden Buchstaben erkannte ich, wie

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