Liverpool Street
Schwer zu glauben, nicht? Plötzlich hofft man auf Herrn Hitler. «
Ich sagte nichts. Mein Geheimnis drängte jetzt mit aller Macht, endlich erzählt zu werden, aber der Moment verstrich.
»Blaue Uniformen«, sagte sie. »Die Navy trägt blau und weiß. Nicht, weil das Meer blau ist, sondern weil wir während der Kolonialherrschaft an Indigo-Pflanzen herankamen. Die Farbe, die man daraus gewinnt, hält jedem Wetter auf See stand. Das hast du nicht gewusst, stimmt’s?«
In dieser Nacht kam jemand zu mir zurück, dem ich schon seit Monaten nicht mehr begegnet war. Es war der Wolf, er lief jetzt auf vier Beinen und hatte sich auch sonst ziemlich verändert, aber ich erkannte ihn trotzdem wieder. Er jagte mich rund um den See im Regent’s Park und es war ein so gutes Gefühl, ihm immer noch davonlaufen zu können, dass ich es eine ganze Weile auskostete, bevor ich mir den Befehl »Jetzt!« zum Aufwachen gab.
»Excuse me, do you need a cook or gardener? Any kind of domestic help?«
Ich musste an den kümmerlichen, fehlerhaften Text denken, den ich im Frühjahr heruntergebetet hatte, und wunderte mich, wie anders es sich in den letzten Tagen angefühlt hatte, an fremden Haustüren zu stehen. Freundlich und selbstbewusst schaute ich der Dame des Hauses in die Augen und erkannte sofort, dass sie beeindruckt war.
»Bist du jüdisch?«, fragte sie.
»Ja. Es geht um meine Eltern, die noch in Berlin sind. Ich selbst bin im Januar mit einem der Kindertransporte aus Deutschland gekommen.«
Das Wort Kindertransport zog immer. Viele hatten darüber gelesen oder im Radio davon gehört. »Herrje. Wie alt bist du? Gehst du hier zur Schule? Natürlich, dieselbe Uniform haben meine Kinder auch getragen! Möchtest du eine Tasse Tee mit mir trinken?«
»Gern!« Ich folgte ihr in ein großes, helles Haus, wir setzten uns in die Küche.
»Ich bin Mrs March«, sagte die Dame. »Ich selbst habe natürlich schon eine Hilfe, aber ich kenne da jemanden …«
»Ja?«, fragte ich aufgeregt.
»Mrs Soderbergh. Die Ärmste hatte vor Kurzem einen Schlaganfall. Eine Krankenschwester kann sie sich nicht leisten, aber ich habe gehört, dass ihr Mädchen, Grace, völlig überfordert ist.«
Ich setzte mein Teeglas ab.
»Ich weiß nicht, ob es ihr recht ist, wenn ich dich vorbeischicke, aber wenn du mir hinterlässt, wo ich dich erreichen kann, werde ich mich selbst erkundigen«, schlug Mrs March vor.
»Das wäre … das wäre …« Meine Stimme versagte. Ich riss ein Blatt aus einem Schulheft, schrieb mit zitternder Hand meine Adresse auf und reichte sie Mrs March.
Die warf einen langen Blick darauf und sah mich überrascht an. »Du wohnst bei den Shepards?«, fragte sie.
»Äh … ja«, gab ich nach kurzem Zögern zu.
»Nun, das ist … ich kenne Amanda Shepard!« Plötzlich merkte ich, dass sie mich genauer und, wie mir schien, strenger anschaute. »Weiß sie, was du während der Schulzeit machst?«
Ich senkte den Kopf. »Nein«, gestand ich kleinlaut.
»Gütiger Himmel«, murmelte Mrs March. »Sie schien ihren Haushalt immer so gut unter Kontrolle zu haben. Gibt es denn keine Überprüfung in den Häusern, die euch Kinder aufnehmen?«
»Wir sind zu viele, sie waren noch nicht überall!« Langsam fand ich Mrs March überhaupt nicht mehr nett.
»Nun, Frances«, sie warf einen neuerlichen abschätzenden Blick auf meine Adresse, »ich werde sehen, was ich tun kann. Du wirst von mir hören!«
Eine Minute später stand ich auf der Straße und wusste nicht, ob ich mich freuen oder fürchten sollte. Was würde sie tun – meinen Eltern helfen oder mich an die Shepards verraten? Die Lust auf weitere Haustürbesuche war mir jedenfalls vergangen. Ich musste auf der Stelle mit Amanda reden, bevor Mrs March mir die Sache abnahm!
Kaum hatte ich mein Rad in den Vorgarten geschoben, kam meine Pflegemutter mir bereits entgegen. Oh nein!, dachte ich entsetzt, als ich ihr blasses Gesicht sah. Sie weiß es!
»Es war alles ganz anders!«, rief ich beschwörend.
Erst da sah ich, dass sie einen Brief in Händen hielt – in beiden Händen, als ob er so schwer zu tragen wäre. »Frances, Liebes, es ist etwas für dich gekommen …«
Aber sie machte keine Anstalten, mir den Brief zu geben. Schließlich nahm ich ihn einfach aus ihrer Hand und wollte ihn gerade öffnen, als mir auffiel, dass ich den Umschlag kannte. Er trug meine eigene Handschrift.
Mein letzter Brief an Mamu und Papa – doch die Adresse war durchgestrichen und
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