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Liverpool Street

Liverpool Street

Titel: Liverpool Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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lag. Ich hatte ein fremdes Mädchen an der rechten und einen nicht gerade leichten Koffer an der linken Hand, dazu die dumme Gasmaske um den Hals, die hin und her schlenkerte. Viel zu schweres Gepäck für eine Flucht. Ich würde den Koffer am Bahnhof zurücklassen müssen.
    »Ich heiße Hazel«, flüsterte meine Nachbarin und drückte meine Hand.
    »Aha«, knurrte ich.
    Es tat gut, wütend zu sein! Wieso hatte ich das vorher noch nie bemerkt? Ich atmete tiefer, ließ die Wut hinein, fühlte mich von Kraft durchpumpt. »I am sick«, teilte mir Hazel mit.
    Meine Güte, was ging mich das an? Wenn sie krank war, sollte sie doch zu Hause bleiben! Rasch nahm ich meine Hand wieder an mich und sagte: »Nicht bös gemeint, aber mich anzustecken, kann ich gerade überhaupt nicht brauchen.«
    Hazel sah mich verwundert an, dann lächelte sie. Sie war das hübscheste Wesen, das ich je gesehen hatte – zart, fast zerbrechlich, und mit einer Haut, die an Crèmetoffees erinnerte. »Ich bin eine Sikh «, wiederholte sie, und jetzt verstand ich, dass sie nicht krank, sondern Inderin war und zu dem Riesen im Turban gehörte.
    »Hör mal, Hazel«, sagte ich, »du bist sehr nett, aber ich suche keine Freundin. Ich habe schon eine, verstehst du?«
    »Ach, das macht doch nichts«, erwiderte Hazel so mitfühlend, als hätte ich ihr gerade mitgeteilt, dass ich eine Freundin verloren hatte, was möglicherweise genau den Tatsachen entsprach. Meine Wut bekam einen kleinen Riss, ich schluckte, stopfte meine rechte Hand in die Manteltasche und beschloss, kein Wort mehr mit Hazel zu reden.
    Wir überquerten die Straße – meine zweite Vertreibung von zu Hause. Doch Deutschland hatten wir bei Nacht und in einem abgedunkelten Zug verlassen. Hier öffneten sich die Türen vieler Häuser, ich sah ernste Gesichter, Tränen, fremde Leute, die an den Straßenrand kamen, um uns Abschiedsworte mit auf den Weg zu geben: »Kopf hoch! Halb so schlimm! Die Unseren werden’s den Hunnen schon zeigen, und dann könnt ihr bald zurück zu eurer Mummy!«
    In Deutschland war Winter gewesen. In Deutschland hatte ich geweint. Hier jedoch schien die Sonne, wie an allen Tagen der letzten Friedenswoche, Vögel zwitscherten, das Postauto fuhr vorbei, um mich war das gleichmäßige Trappeln vieler Füße … und eine eigenartige Genugtuung erfüllte mich, wie eine Befreiung von langem Warten.
    Nun also betrafen Hitlers teuflische Taten nicht mehr nur uns Juden! Endlich würde die Welt aufwachen!
    Am Bahnhof empfing uns geschäftiger Lärm, kaum dass wir die U-Bahn verlassen hatten. Große Dampflokomotiven standen zischend in den Gleisen und gaben ab und zu einen ungeduldigen weißen Puff von sich, als könnten sie damit das Signal zur Abfahrt beschleunigen. Ein unüberschaubares Gewimmel von Kindern aus allen Nordlondoner Stadtteilen drängte sich um ihre Lehrer, die sich mit Rufen und Kommandos gegenseitig überschrien, und um die Frauen vom WVS, dem Women’s Voluntary Service, der die Evakuierung begleitete. Neben dem Karton mit meiner Gasmaske baumelte inzwischen ein Pappschild mit meiner Nummer, an einem Zipfel meines Mantels baumelte Hazel.
    »Dir passiert schon nichts. Die haben hier alles unter Kontrolle, das siehst du doch«, versuchte ich mich aus ihrem Griff zu befreien. Aber Hazel machte ein Gesicht, als sollten wir von einer Klippe ins Meer gestoßen werden, und klammerte sich nur noch fester an mich.
    Verdammt!, dachte ich, während ich mich umsah. In diesem planlosen Getümmel hätte ich mühelos untertauchen können, selbst mit Koffer …
    »Hör mal, Hazel«, sagte ich. »Ich muss mal eben aufs Klo, ich bin gleich wieder da!«
    Entschlossen schlüpfte ich zwischen einigen Erwachsenen hindurch, um erst einmal zwischen unbekannten Schülern verloren zu gehen. Der Widerstand in meinem Rücken ließ keinen Zweifel darüber aufkommen, dass ich Hazel jetzt mit mir schleppte, aber irgendwie hatte ich das bereits geahnt.
    Die Kunst des Flüchtens besteht darin, unerwartete Situationen zu integrieren, erkannte ich und war von dieser Eingebung so hingerissen, dass ich den Satz gleich mehrmals dachte. Er hätte von Bekka sein können.
    »Wohin gehörst du, dear ?«, hielt mich eine der WVS-Frauen auf.
    »Camden Elementary School«, antwortete ich und hoffte, dass diese Schule existierte.
    »Das muss Bahnsteig 5 sein. Ich bringe euch hin!« Sie bahnte uns den Weg, warf dabei Hazel einen mitfühlenden Blick zu und streckte die Hand nach ihr aus. »Hab keine

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