Liverpool Street
drängten: »Seht nur hin, Kinder! So ist es, wenn man aus Deutschland kommt und es nicht besser weiß!«
12
Ich verlor jegliches Gefühl für die Zeit. Waren wir zwei, vier, fünf Stunden unterwegs? Meine eigene Zeit schien rückwärtszulaufen, ich sah Amanda und Onkel Matthew beim Abschied auf dem Schulhof, das Sonnenmuster auf meiner Bettdecke beim Aufwachen am Morgen, ich sah Gary und Walter im Ruderboot und schrieb meinen ersten Brief an Bekka, wieder und wieder. Meine Pflegeeltern laden dich ein, zu uns zu kommen.
Ich hatte keinen Zweifel, dass der Zug im Kreis fuhr. Selbstverständlich konnten wir am Ende nur in London ankommen, und diesmal würde ich nicht eine Minute auf der Bank sitzen. Ich würde direkt an den Tischen der Damen vom Komitee vorbeimarschieren, Entschuldigung, meine Pflegeeltern warten schon, wir gehen jetzt nach Hause!
Selbst als wir an einem winzigen Bahnsteig mitten im Nirgendwo hielten und ausstiegen, wollte ich nicht wahrhaben, dass ich evakuiert war. Zwar stand dort ein Bus bereit, doch nicht für uns!
»Wer sind denn Sie?«, fragte der Fahrer irritiert. »Wir erwarten hier zwanzig Mütter aus Stepney mit ihren Babys!«
Siehste!, dachte ich. Ich hab’s doch gewusst!
Leider nahm er uns nach einigem Palaver trotzdem mit, und so trafen wir am Freitagabend, dem 1. September 1939 als unerwünschte Gäste in Tail’s End ein. Eine Reihe freiwilliger Helferinnen schwärmte sogleich mit Mrs Collins aus, um zusätzliche Übernachtungsplätze zu finden. Die anderen Kinder und ich aßen im Gemeindesaal den Willkommensbrei für die Babys aus Stepney.
Mrs Collins sah ziemlich erschöpft aus, als sie zurückkehrte. »Hört zu, Kinder«, rief sie und klatschte in die Hände, um sich Aufmerksamkeit zu verschaffen. »Es hat mehrere geringfügige Pannen bei der Zugbelegung gegeben und wir müssen nun ein wenig improvisieren. Ein Teil von euch wird im Nachbarort Tail’s Mews unterkommen. Morgen Früh treffen wir uns alle wieder hier, und zwar um zehn Uhr!«
Sie schaute auf ihre Liste, seufzte, zog einen schicksalhaften Strich vor den letzten zehn Namen im Alphabet und so landete ich in der Gruppe für Tail’s Mews.
Was das bedeutete, wurde mir erst klar, als unsere kleine Schar die Häuser nichts ahnender Familien abklapperte. Zwar hatten diese vor längerer Zeit einmal Angaben darüber machen müssen, wie viele Zimmer ihres Hauses sie erübrigen konnten, doch dass die Gäste ohne Vorwarnung, quasi mitten in der Nacht über die Türschwelle geschoben wurden, stieß auf wenig Entgegenkommen.
Bei fremden Leuten zurückgelassen zu werden, die uns ganz offensichtlich ablehnten, war scheußlich – selbst für mich, die immer noch fest davon überzeugt war, dass mich die Evakuierung gar nicht betraf. Zwei oder drei Nächte, dann würde Mamus Bescheinigung eintreffen und ich konnte nach London zurückkehren!
Wie viel schlimmer musste diese Erfahrung erst für meine Mitbewohnerin, die glücklose Hazel Vathareerpur sein? Hazel verdankte der Tatsache, dass sie auf der lückenhaften alphabetischen Namensliste direkt nach mir kam, gleich eine doppelte Katastrophe: Nicht nur war sie bei einer unfreundlichen Familie abgeladen worden, sondern noch dazu mit der verrückten Hunnin, the mad hun! Der Spitzname musste sich schon während der Zugfahrt etabliert haben, denn bei der Ankunft hatten sich die anderen Kinder bereits keine Mühe mehr gegeben, ihn vor mir zu verbergen. Und jetzt, am Tisch der Wyckhams, war nicht zu erkennen, was Hazel unheimlicher fand: mich an ihrer Seite oder Mr Wyckham direkt vor uns, einen kastenförmigen Mann, dem wolliges Brusthaar unter dem Unterhemd hervorquoll. Er starrte uns schweigend, kauend und Bier trinkend an, während Mrs Wyckham in der Küche Nachschub besorgte.
Endlich kehrte sie zurück, stellte je einen Teller mit Schinkenbroten vor Hazel und mich hin und setzte sich neben Mr Wyckham, um uns beim Essen zuzusehen. Gehorsam und mit zierlichen Bewegungen nahm Hazel ihr Brot und gab sich Mühe, an ihren aufkommenden Tränen vorbei kleine Stücke davon zu schlucken.
»Nu iss schon«, sagte Mr Wyckham nach einer Minute zu mir.
»Nein, haben Sie vielen Dank«, antwortete ich höflich. »Ich bin nicht hungrig.«
»Iss«, wiederholte er.
In meinem Inneren ballte sich etwas zusammen, wie eine böse Vorahnung. »Ich kann nicht«, rückte ich mit der Wahrheit heraus. »Ich bin Jüdin. Wir essen keinen Schinken.«
»Was ist verkehrt an Schinken?«
»Nichts.
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