Liverpool Street
gesagt. »Es werden Scharen von Kindern am Bahnhof sein, da behält doch niemand den Überblick.«
»Von Schuluniform haben sie aber nichts gesagt. Ich will nicht die Einzige sein, die eine trägt«, erwiderte ich und näherte mich bereits auf Zehenspitzen den beiden Wörtern, die soeben wie Blinklichter im Nebel vor mir aufgetaucht waren: verloren gehen.
»Es wäre aber besser. Du kennst die anderen doch noch gar nicht und sie dich auch nicht. Stell dir vor, du steigst versehentlich in den falschen Zug, landest mit einer falschen Klasse wer weiß wo und niemandem fällt es auf!«
Drei Tage, dachte ich. Ich muss die ganze Sache nur drei oder vier Tage hinauszögern, bis dahin ist Mamus Bescheinigung da und ich kann bleiben!
Mitten im Einpacken meiner Sachen setzte sich Amanda plötzlich mit tiefem Aufseufzen neben den Koffer aufs Bett. »Bin ich froh, dass du es so gut aufnimmst, Frances«, sagte sie. »Bestimmt wird es dir auf dem Land sehr gut gehen, und endlich bist du wieder mit Gleichaltrigen zusammen! Nur bei uns wird es viel zu ruhig werden, wenn du nicht mehr da bist.« Plötzlich musste sie lachen. »Weißt du noch, der Abend deiner Ankunft? Garys Streiche bei Tisch und wie du tapfer versucht hast, ihm alles nachzumachen?«
»Wie ich dich gebissen und in Brand gesteckt habe, weiß ich noch viel besser!«
Ich setzte mich neben sie. Sie sah mich voller Wärme an. »Ich erinnere mich auch noch, was ich gedacht habe, als ich dich am ersten Abend beobachtete. Ich dachte, irgendwo in Deutschland sitzt jetzt eine Mutter, die ihr Kind allein auf diese weite Reise geschickt hat und es fremden Leuten anvertraut, weil sie es im Augenblick nicht so versorgen kann, wie sie möchte. Jede Stunde des Tages sehnt sie sich nach ihrem Kind, und doch hat sie es hergegeben. Wer tun kann, was deine Mutter getan hat, Frances, der muss sein Kind sehr, sehr lieben.«
Ich sah sie groß an. Ich hoffte, dass ich kein einziges ihrer Worte je vergessen würde.
»Und deshalb«, schloss Amanda, »würde sie bestimmt wollen, dass du aufs Land evakuiert wirst, wenn es gefährlich wird!«
Mein Gemüt verdunkelte sich sofort. Ich gehe nicht!, dachte ich, nein: Ich wusste es, ich spürte es jetzt klar und deutlich. Ich würde nicht gehen! Einmal hatte ich diesen Fehler gemacht und meine Familie verloren, jetzt waren sie in einem anderen Land und vielleicht kamen nicht einmal mehr Postkarten zwischen uns an. Aber meine zweite Familie würde ich nicht aufgeben. Ich würde bei den Shepards bleiben, selbst wenn die Bomben fielen, besonders wenn die Bomben fielen, denn mit ihnen zusammen zu sterben würde leichter zu ertragen sein, als ohne sie übrig zu bleiben.
»Sie wird so erleichtert sein, wenn sie davon erfährt!«, meinte Amanda lächelnd.
Mein erster Gedanke, als wir auf dem Schulhof eintrafen, war dass sich weit über die Hälfte der Kinder verspätet hatten; es war fast dreizehn Uhr und nicht mehr als vierzig Schüler mit ihren Familien konnten sich versammelt haben. Vielleicht würden wir alle den Zug verpassen!
Aber als wir uns zu zweit aufstellten, dämmerte mir, dass die anderen nicht kommen würden. Ihre Familien machten von dem Recht Gebrauch, an der Evakuierung nicht teilzunehmen. Alle außer den Shepards und mir hatten dieses Recht gehabt. Heiße Wut wallte in mir auf – Wut, schon wieder eine Ausnahme zu sein, jemand, über den Fremde bestimmten.
Nicht einmal die Lehrer fuhren mit, nun da es ernst wurde. Bloß Mrs Collins, die Direktorin, trug einen Koffer und schien Angehörigen Auf Wiedersehen zu sagen. Um mich herum war ein leises Flüstern und Schnüffeln, nur wenige weinten offen, darunter ein Riese mit einem weißen Turban auf dem Kopf, der in seinen Ärmel schluchzte. Onkel Matthew hatte den Arm um Amanda gelegt, sie waren durch nichts von den richtigen Eltern der anderen Kinder zu unterscheiden und hätte ich nicht längst gewusst, dass wir zusammengehörten, wäre es mir spätestens jetzt klar geworden.
»Nun wollen wir gehen, Kinder!«, rief Mrs Collins und setzte sich winkend an die Spitze des Zuges . »Immer schön in der Reihe und bleibt auf dem Gehweg!«
Rufe schallten durcheinander. Die kleineren Kinder begannen zu weinen, weil sie merkten, dass ihre Mütter und Väter nicht zum Bahnhof mitgehen würden. Ich selbst erhaschte noch ein letztes aufmunterndes Lächeln meiner Pflegeeltern, dann blickte ich mich nicht mehr um, sondern richtete meine ganze grimmige Konzentration auf das, was vor mir
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