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Liverpool Street

Liverpool Street

Titel: Liverpool Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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aufmunterndes Lächeln. »Du wirst den anderen gegenüber einen großen Vorteil haben, Schatz. Du kennst das ja schon …«
    »Aber … warum?«, brachte ich heraus.
    Meine Pflegemutter richtete sich ein kleines Stück auf, bekam eine feste Stimme und wurde ganz sachlich. »Weil niemand sagen kann, was auf uns zukommt. England ist eine Insel; wenn die Deutschen uns die Seewege abschneiden, können sie uns regelrecht aushungern. Abgesehen davon, dass vermutlich die Hölle losbricht, wenn sie London angreifen. Auf dem Land wärest du davor sicher, Frances. Ich habe den Krieg in der Stadt noch in bester Erinnerung, und glaub mir, das möchtest du nicht erleben!«
    »Aber ich habe euch gerade erst gefunden!«, stammelte ich.
    »Vorerst ist es doch nur eine Übung …« Nun klang auch Amanda ziemlich hilflos.
    Ich rieb mit der Hand über die Schnitzerei an ihrer Stuhllehne. »Was ist mit Bekka?«
    »Wenn es so weit ist, werdet ihr zusammen gehen. Zusammen mit eurer ganzen Schule. Siehst du? Diesmal wärest du nicht allein!«
    »Können sie uns zwingen?«
    Amanda sah an mir vorbei. »Ja«, antwortete sie.
    Ich trat einen Schritt zurück. »Du lügst! Das sehe ich doch!«, rief ich.
    »Nein, Schatz. Das Flüchtlingskomitee entscheidet. Es gibt nichts, was wir tun können.«
    »Das wollen wir erst mal sehen! Ich schreibe an meine Mutter! Wenn sie dem Komitee mitteilt, dass ich bei euch bleibe, können die nichts tun!«, rief ich.
    Ich war schon auf dem Weg zur Tür. »Frances, es ist doch nur eine Übung«, wiederholte Amanda, aber ich schrie sie beinahe an: »Ich gehe nicht! Nicht noch einmal!«
    Meine Hände zitterten so sehr, dass ich den kurzen Brief an Mamu kaum zustande brachte.
    London, 28. August 1939. Liebste Mamu, du musst mir helfen! Sie wollen mich, wenn es Krieg gibt, von den Shepards weg aufs Land bringen. Bitte schicke mir sofort eine Bescheinigung: »Sehr geehrtes Flüchtlingskomitee, ich verfüge, dass meine Tochter Frances Ziska Shepard Mangold nicht evakuiert wird, sondern bei Familie Shepard in London bleibt.« Bitte tu es gleich, Mamu, damit ich etwas in der Hand habe! Ich schreibe auch an Frau Liebich, dass sie Bekka den gleichen Zettel mitgibt. Bekka kommt am 4. September. Später mehr, es ist eilig, der Briefkasten wird um diese Zeit geleert!
    Ich rannte wie um mein Leben. Zur selben Zeit wie das Postauto erreichte ich den Briefkasten zwei Straßen weiter und gab dem Mann keuchend meinen Brief.
    »Wieso hast du deine Gasmaske nicht bei dir?«, fuhr er mich an. »Ihr sollt die Dinger draußen bei euch tragen, das ist Vorschrift! Mach, dass du von der Straße kommst, aber schnell!«
    Er sprang in seinen Postwagen und fuhr eilig davon, während mein Blick mit heißem Schreck nach oben schoss und ängstlich den Himmel über Finchley absuchte. Doch dort waren nur zwei kleine Zeppeline, die als Sperrballons dienten, und eine große Schar Vögel, die sich auf den Stromleitungen versammelten.
    Es war ein ganz normaler Spätsommertag – wie konnten Bomben darauf fallen?
    Feigling!, schalt ich mich selbst und zwang mich, ganz langsam nach Hause zurückzuschlendern. Es ist alles in Ordnung! Es spielen auch noch Kinder draußen …
    Drei kleine Mädchen waren es, die mit Kreide Hinkelfelder auf die Straße gemalt hatten. Sie hüpften hingebungsvoll und hielten dabei die Pappkartons mit den Gasmasken fest, die an einer Kordel um ihren Hals hingen. Die kleinen Kisten gehörten nun ebenso selbstverständlich zur Bekleidung der Kinder in England wie die Schuhe und Strümpfe oder der Mantel im Winter.
    Es war alles in Ordnung. In wenigen Tagen würde Bekka neben mir gehen. Eine blöde Schulübung in den Ferien, was machte das schon?
    Am Freitag, dem 1. September erwachte ich, als die Sonne schon warm in mein Fenster schien, und mein erster Gedanke war derselbe wie an den drei Morgen davor: »Hoffentlich lassen sie mich am Montag mitfahren, Bekka abholen!«
    Seit ich den zweiten Fußmarsch zum Bahnhof mitgemacht und meine neuen Klassenkameraden kennengelernt hatte, war dies meine größte Sorge, die sogar die drohende Evakuierung in den Hintergrund drängte.
    In der Gruppe der Gleichaltrigen mitzulaufen hatte mich daran erinnert, dass ich ab dem kommenden Montag eine richtige Schülerin sein würde, die nicht einfach kommen und gehen konnte, wie es ihr passte. Die Freiheit des letzten halben Jahres war vorbei und ich konnte mir an zehn Fingern ausrechnen, dass man mich nicht ohne Weiteres schon am ersten

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