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Liverpool Street

Liverpool Street

Titel: Liverpool Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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Es ist nur so, dass wir kein Schweinefleisch …«
    »Du kannst das ruhig essen, es ist ein sehr guter Schinken«, versicherte Mrs Wyckham. »Wir kannten das Schwein. Sie wird schon essen, Dennis«, sagte sie und warf ihrem Mann einen nervösen Blick zu.
    Neben mir gab Hazel ein flehentliches kleines Aufschluchzen von sich.
    »Iss jetzt!«, polterte Mr Wyckham und gab meinem Teller einen Stoß auf mich zu.
    Ich starrte auf das Brot und dachte: Na gut, was soll’s, dann esse ich es eben! Bis vor einem halben Jahr habe ich das auch getan, und selbst wenn ich es nun besser weiß – was macht das schon, für ein paar Tage?
    Aber es war sehr merkwürdig: Mein Mund war bereit, doch meine Hand rührte sich nicht!
    Ein Stuhl fiel krachend um, ich blickte auf und sah eine riesenhafte Gestalt sich über dem Tisch auftürmen. »Ich sag’s nicht noch mal!«
    »Ich kann nicht«, flüsterte ich und duckte mich in Erwartung eines neuerlichen Gebrülls. Doch stattdessen stampfte Mr Wyckham schwerfällig um den Tisch herum, blieb einen Augenblick hinter mir stehen und legte plötzlich zu meiner Überraschung seinen haarigen Arm um mich. Instinktiv wich ich zurück, traf auf die weiche, nicht besonders angenehm riechende Unterlage seiner Schulter, und als ich gerade dachte, das ginge jetzt wirklich zu weit, zog sich der Griff auch schon brutal zusammen.
    »DU ISST JETZT DAS VERDAMMTE BROT!«
    Ohrenbetäubend stürzten Laute durcheinander, verzerrt, wie von weit her, während eine Hand mir etwas in den Mund stopfte, immer mehr, obwohl längst nichts mehr hineinging. Eine aufgeregte Frauenstimme kreischte: »Dennis, lass los, lass los!« Vor meinen Augen wurde es abwechselnd schwarz und wieder klar. Mit aller Kraft warf ich mich nach hinten und schlug mit dem Hinterkopf gegen Mr Wyckhams Kinn, dass es nur so krachte. Der Griff lockerte sich, ich spuckte, kratzte, strampelte. Meine Hand erwischte das Zeitungspapier, das als Tischdecke diente, ich ballte die Faust darum und als Mr Wyckham mich mitsamt meinem Stuhl zur Seite warf, riss ich alles mit, was auf dem Tisch gestanden hatte.
    Aus der Zimmerecke kam ein Wimmern: Hazel, die versuchte, sich hinter dem Papierkorb zu verstecken. Ich kroch auf sie zu, doch schon wurde ich gepackt und hochgehoben, schwebte neben Mr Wyckhams Beinen durch die Küche und sah eine Matratze auf mich zukommen. Er warf mich in die kleine, fensterlose Kammer, die Hazel und mir als Schlafplatz dienen sollte, und schloss die Tür hinter mir ab.
    Keuchend und zitternd lag ich auf dem Rücken, meine Kehle würgte krampfhaft und brannte wie Feuer. Aus dem Nebenzimmer drangen streitende Stimmen und Hazels Weinen; ganz kurz klirrte etwas, als ob Scherben auf dem Boden zusammengeschoben würden, dann war erst Stille und schließlich flog noch einmal die Tür auf. Hazel wurde hereingeschubst, stolperte im Dunkeln zu ihrer Matratze und krümmte sich fassungslos zusammen.
    »Warte, ich mache uns Licht!«, krächzte ich und kroch zu meinem Koffer. Unter weichem Seidenstoff fühlte ich den kleinen Reiseleuchter und die Kerzen, fand die Streichholzschachteln etwas weiter unten. Meine Hand zitterte, sodass ich einige Zeit brauchte, um ein Hölzchen anzuzünden, doch dann brannte die Schabbatkerze, es gab wieder Licht, Licht und eine seltsame Ruhe in mir.
    »Du brauchst keine Angst vor mir zu haben, Hazel«, sagte ich. »Ich bin keine Deutsche mehr, ich bin Jüdin. Das ist der Grund, warum meine Familie verfolgt wird, warum ich nie mehr Schweinefleisch esse und warum ich jetzt den Schabbat feiere. Das ist ganz normal, verstehst du, weil es Freitagabend ist und Juden auf der ganzen Welt es ebenso machen.«
    Ich hob meine Hände über die Kerze, bewegte sie in kleinen Kreisen, um den Rauch auf mich zu ziehen und sprach erst leise, dann mit lauter werdender Stimme alles, was ich bis jetzt auf Hebräisch gelernt hatte: den Segen über der Kerze, das Sch’ma Israel und das vertraute Nachtgebet. Die Ruhe in mir wuchs, wurde zur Zuversicht. Selbst Hazel bekam davon ab, denn sie hörte auf zu weinen, setzte sich auf und sah mir zu.
    Nach einer Weile flüsterte sie: »Wir essen keine Kühe.«
    Ich sah sie verblüfft an.
    »Kühe sind unsere heiligen Tiere. Aber wenn er …«, sie warf einen ängstlichen Blick zur Tür, »… wenn er will, werde ich sie wohl doch essen.«
    Ich zögerte einen Moment, dann kroch ich zu ihr hinüber und setzte mich neben sie. Gemeinsam horchten wir, aber draußen war jetzt alles still.

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