Liverpool Street
Vormittag nach den Ferien wieder gehen lassen würde, selbst wenn meine beste Freundin aus Deutschland eintraf!
Aus der Küche klang das Radio, eine ziemlich laute, aufgeregte Stimme, ich hörte sie schon oben auf der Treppe. Zusätzlich klingelte das Telefon und ich nahm im Vorbeigehen den Hörer ab. »Bist du das, Franziska?«, hörte ich es am anderen Ende der Leitung fragen. »Hier ist Mrs Lewis, erinnerst du dich? Ich möchte mit Mrs Shepard sprechen.«
Ich ging weiter in die Küche. »Amanda, das Flüchtlingskomitee ist am Telefon.«
Amanda saß mit Onkel Matthew am Frühstückstisch, obwohl er um diese Zeit normalerweise längst bei der Arbeit war. Dafür fehlte Millie und auch das Frühstück sah aus, als wäre es an diesem Morgen noch nicht angerührt worden. Amanda stand auf und lief beinahe an mir vorbei; ich erhaschte einen Blick auf ihr angespanntes Gesicht und wusste im selben Augenblick, was passiert war. »Der Krieg?«, fragte ich aufgeregt und rutschte Onkel Matthew gegenüber auf die Sitzbank. »Hat der Krieg angefangen?«
Onkel Matthew legte einen Finger an die Lippen, damit wir dem Bericht weiter zuhören konnten. Wie es schien, hatten deutsche Truppen in den frühen Morgenstunden Polen angegriffen, einen unserer Verbündeten. Das bedeutete Krieg.
Polen!, dachte ich bestürzt. Ruben!
Der Bericht war noch nicht zu Ende, als Amanda wieder in der Tür erschien und mein Herz aussetzte. Aus ihrem Gesicht war jegliche Farbe gewichen. »Es ist so weit, Frances«, sagte sie.
»Evakuierung?« Ich hörte meine Stimme wie einen Lufthauch.
Sie nickte. »Wir haben vier Stunden Zeit. Treffen auf dem Schulhof, wie geplant.«
Sie setzte sich zu uns und ich erhaschte den raschen Blickwechsel zwischen ihr und Onkel Matthew. Als ob er stumm eine Frage stellte und sie ihm schweigend die Antwort gab, eine negative Antwort. Seine Schultern sanken, ich konnte es ganz deutlich sehen.
»Und Bekka?«, fragte ich.
Amanda setzte an, etwas zu erwidern, aber ihre Stimme versagte, und da verstand ich endlich auch. »Nein«, flüsterte ich.
»Einen letzten Zug haben sie noch herausgelassen.« Meiner Pflegemutter standen Tränen in den Augen. »Aber nun ist Deutschland im Krieg und das ist das Ende der Kindertransporte. Bekka wird nicht kommen, Frances. Sie wird nicht kommen«, wiederholte sie noch einmal, und als sie es zum zweiten Mal sagte, begriff ich, dass sie zu sich selbst gesprochen hatte und dass unsere Zeit miteinander vorbei war, in vier Stunden.
»Dein Winterzeug schicke ich dir nach, sobald ich weiß, wohin deine Schule evakuiert wird, sie schicken eine Postkarte mit deiner Adresse, das heißt, in deinem Fall würden sie die Karte natürlich deiner Mutter schicken, aber ich weiß nicht, Holland, kommt das überhaupt noch an? Entschuldige, wie dumm von mir, natürlich kommt das an, aber vielleicht schicken sie die Adresse doch besser uns und ich leite sie weiter, dann wissen auch wir, wo du bist, und wenn es nicht allzu weit ist, kann ich dich besuchen, falls sie die Eisenbahnen nicht für kriegswichtige Zwecke requirieren, obwohl, irgendwie muss man doch im Land reisen können, zumal die Privatautos sicher bald stehen bleiben müssen wegen Treibstoffmangel …«
Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich meine Pflegemutter als äußerst selbstbeherrschte Person kennengelernt, die keine überflüssigen Worte verlor, aber nun redete sie ohne Unterbrechung, wie ein Radio, dessen Ausschaltknopf sich verklemmt hatte. Mein Gewissen setzte mir inzwischen ordentlich zu und hämmerte mir die Worte »Sag’s ihr, sag’s ihr endlich!« ein, doch ich presste entschlossen die Lippen zusammen. Ich verschwieg Amanda, dass ich schon am Abend wieder zurück sein würde. Je weniger Leute von meinem Plan wussten, desto besser.
»Hier, die möchtest du vielleicht mitnehmen, das ist Matthews Reisekerze, die ist ziemlich leicht, die hatte er dabei, als er in Frankreich war, schau mal, Frances, möchtest du die mitnehmen?« Sie wickelte einen zierlichen Kerzenständer in ein Tuch, legte ihn zusammen mit einigen Ersatzkerzen in den Koffer und wartete meine Antwort gar nicht erst ab. »Ja, sie ist wunderschön, die nehme ich gerne mit!«, erklärte ich trotzdem.
Ich wunderte mich selbst, wie ruhig ich plötzlich war. Ziska Mangold, die Meisterin des Survival Plans. Es war Amanda selbst, die mich auf die Idee gebracht hatte.
»Vielleicht ziehst du auf der Reise deine Schuluniform an, damit du nicht verloren gehst«, hatte sie
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