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Liverpool Street

Liverpool Street

Titel: Liverpool Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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Angst, Schätzchen, ich setze euch direkt in den Zug!«
    Als Hazel ihre Uniform sah, ließ sie auf der Stelle meinen Mantel los und ergriff vertrauensvoll die Hand unserer Führerin. Die beiden gingen mir voran, die Gelegenheit würde günstiger nicht werden, und ich dachte: Mist.
    Hazel auf dem Bahnsteig sich selbst zu überlassen, hatte ich keine Skrupel gehabt, aber dass sie in den falschen Zug gesetzt wurde, lag nicht in meiner Absicht! Drei wertvolle Sekunden zauderte ich. Als ich mich endlich entschloss, meinem eigenen Wohl den Vorrang zu geben, hinter einem Zeitungsverkäufer Deckung zu suchen und mit ihm in die Gegenrichtung zu verschwinden, hörte ich bereits den jammervollen Schrei: »Aber ich bin doch aus Finchley!«
    Es war nicht genug Platz für einen Sprint. Ich prallte mit drei oder vier Leuten zusammen, dann kamen zwei WVS-Frauen von vorne und das war’s. »Frances Shepard, hast du den Verstand verloren?«, fauchte Mrs Collins, als sie mich ihr übergaben.
    »Wir wollten aufs Klo!«, behauptete ich und versuchte, meinen Arm zwischen den krallenähnlichen Fingern hervorzuziehen, die sich in meine Haut bohrten. »Fragen Sie doch Hazel!«
    »Du kannst im Zug aufs Klo«, erklärte Mrs Collins.
    »Nun ja, vermutlich nicht«, meldete sich die WVS-Frau, die mich gefangen hatte. »Die meisten Züge, die wir organisieren konnten, sind nicht mit Toiletten ausgestattet.«
    »Auch das noch«, murmelte Mrs Collins, drehte sich zu ihren Schülern um und rief: »Alle mal herhören! Wer möchte, bevor wir in den Zug steigen, die Toilette benutzen?«
    Ein halbes Dutzend Kinder meldete sich, abermals bahnten wir uns einen Weg durch den Bahnhof, doch an Flucht war nicht mehr zu denken. Mrs Collins vergewisserte sich, dass meine Kabine kein Fenster hatte und pflanzte sich grimmig davor auf. Auf der Toilette hockend, sah ich ihre Schuhe durch den Türspalt. Der rechte Fuß wippte ungeduldig, dann kam sie scharrend noch etwas näher, wohl um an der Tür zu horchen. Einige Sekunden vergingen. »Na, was ist, ich dachte, du musst so nötig?«, fragte sie höhnisch.
    Nach einer Minute gab ich auf und kam gesenkten Hauptes wieder heraus.
    Lärmend und schubsend drängten meine Mitschüler in die Abteile. Ich hievte meinen Koffer in die Gepäckablage, behielt den Mantel an und setzte mich auf den Platz gleich neben dem Gang. Dabei versuchte ich, der offen stehenden Zugtür keinen einzigen Blick zuzuwerfen, und auch Mrs Collins nicht, die im Gang patrouillierte. Hazel war vorsichtig geworden und hatte sich in das Abteil gesetzt, das am weitesten von mir entfernt lag.
    Endlich wurde die Zugtür geschlossen, Mrs Collins nahm ihren Platz im Abteil vor dem meinen ein, der Pfiff zur Abfahrt ertönte. Ich hörte das laute Zischen der Lokomotive, als wir uns ganz langsam in Bewegung setzten.
    JETZT! Ich stieß mich vom Sitz ab. Im Bruchteil von Sekunden war ich am Ausstieg, drückte mit aller Kraft den Hebel, warf mein ganzes Gewicht gegen die Tür und spürte sie auffliegen. Die Erde zu meinen Füßen bewegte sich, weißer Dampf schlug mir entgegen, zwischen Bahnsteig und Zug war ein schwarzes Loch. Einen Moment nahm es mir den Atem, dann schloss ich die Augen, sprang …
    … und aus! Ein gewaltiger Schlag traf mich, ich flog und wusste nicht wohin, schwebte wie schwerelos in einem dunklen Raum zwischen zwei Sekunden, die sich in die Länge zogen. Blitzartig ahnte ich, dass ich tot war, zerquetscht zwischen Zug und Bahnsteig, doch dann lag ich auf dem Bauch, fühlte keinen Schmerz, das einzig Merkwürdige war das schwere Gewicht in meinem Rücken, das mir die Luft abdrückte.
    Mrs Collins kletterte von mir herunter, drehte mich auf den Rücken und gab mir in schneller Folge drei oder vier Ohrfeigen. Ich lag im engen, schmutzigen Zwischenraum vor der Zugtür, draußen zog die Landschaft vorbei und jemand, ein fremder Lehrer vielleicht, kämpfte bei schneller werdender Fahrt damit, die Tür zu schließen.
    Womit sie sicher nicht gerechnet hatten, war, dass ich selbst jetzt noch einen Versuch unternahm. Ich hörte Mrs Collins’ Schreckenslaut, als die Wut mich ihr entriss, nach vorn katapultierte und abermals auf die Tür zustieß.
    Diesmal waren sie zu dritt: Mrs Collins, der fremde Lehrer und eine WVS-Frau. Sie zerrten mich durch den Gang, ein kreischendes, zappelndes, tretendes Bündel Arme und Beine, und Mrs Collins schrie nicht mich, sondern die schreckensbleichen Gesichter an, die sich in den Abteiltüren

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