Liz Balfour
Sagengestalt. Sie kannte natürlich seinen richtigen Namen, und sie wusste auch, dass er verheiratet war und drei Kinder hatte, einen Jungen und zwei Mädchen. Naoise war acht Jahre älter als sie. Er lebte auf dem Land und züchtete Rennpferde. Damit war schon sein Vater zu einem wohlhabenden Mann geworden. Naoises Frau war in seinem Alter. Die beiden kannten sich bereits aus Schultagen. Sie war das erste Mädchen, das er küsste, das erste Mädchen, das er liebte, und da sich ihre Eltern gut verstanden, einigte man sich bald darauf, dass die beiden heiraten müssten. Damals war Naoise gerade zwanzig Jahre alt gewesen. Seine Liebe zu dem Mädchen war längst nicht mehr so stark wie am Anfang. Er sehnte sich danach, die Welt zu sehen, Abenteuer zu erleben, etwas anderes kennenzulernen als den County Cork, die Pferde, dieses Mädchen. Als er versuchte, es seinem Vater zu sagen, wurde dieser wütend. Als seine Mutter von seinen Plänen erfuhr, legte sie sich ins Bett und stand zwei Wochen lang nicht mehr auf. Das Mädchen spürte, dass sie dabei war, ihn zu verlieren,
also sagte sie, sie sei schwanger. Naoise musste heiraten. Er war nämlich katholisch, wie alle Iren. Erst nach der Hochzeit merkte er, dass sie ihn angelogen hatte. Ihr erstes Kind kam über ein Jahr später. Ein zweites folgte und starb kurz nach der Geburt. Die Zwillinge, die dann kamen, überlebten. Danach brachte Naoise es nicht mehr über sich, mit seiner Frau zu schlafen. Nichts davon verheimlichte er seiner schönen Krankenschwester.
Die Liebe der beiden durfte nicht sein. Zu dieser Zeit konnte man sich nicht einfach scheiden lassen. Die irische Verfassung ließ das nicht zu, die Katholische Kirche sowieso nicht. Aber die schöne Krankenschwester war noch jung und ungestüm. Sie liebte ihn mit Leib und Seele, und auch sein Feuer war nicht mehr zu löschen. Eines Tages schickte er einen Jungen los, der seinen Großvater im Krankenhaus besuchte, damit er ihm eine Rose besorgte. Die Rose schenkte er der jungen Frau, und an diesem Tag küssten sie sich zum ersten Mal. Es war der 11. Mai 1972.
Kaum war er wieder gesund, trafen sie sich heimlich. Sie konnten sich nur selten sehen, aber das erhöhte noch den Reiz. Er schrieb ihr Briefe, schickte kleine Geschenke, und ein Jahr, nachdem sie sich im Krankenhaus kennengelernt hatten, schickte er ihr wieder eine Rose. Und ein Smaragdherz an einer silbernen Kette. Sie würde diese Kette niemals in der Öffentlichkeit tragen können, denn man würde ihr Fragen stellen, die sie nicht beantworten konnte. Aber er erfuhr, dass sie sie trug, wenn sie in ihrem Zimmer war, nachts, wenn alle im Wohnheim schliefen.
Naoise und seine heimliche Geliebte schmiedeten Pläne.
Sie wollten das Land verlassen. Irgendwohin, wo er seine Ehe annullieren lassen und seine Krankenschwester heiraten konnte. England, schlug sie vor. Oder Schottland. Sie war sich sicher, dass sie ohne Probleme Arbeit finden würde, und auch er würde zurechtkommen. Sie brauchten ja nicht viel, sie hatten sich. Schließlich vereinbarten sie ein Datum, und weil er der größere Romantiker war, setzte er den 11. Mai 1974 für die Flucht fest – exakt zwei Jahre nach ihrem ersten Kuss. Er bat sie, den größten Teil der Vorbereitungen zu treffen, weil er Angst hatte, seine Familie könnte ihm auf die Schliche kommen. Sie sparte auch das Geld für die Schiffsreise zusammen und kaufte die Tickets. Wenn sie sich sahen, schwor er ihr seine immerwährende Liebe und versicherte ihr, wie sehr er sich auf ihr gemeinsames Leben freute. In England oder Schottland oder Wales, ganz egal wo. Hauptsache, sie waren zusammen. Noch nie, sagte er, hatte er jemanden so sehr geliebt wie sie. Nicht einmal seine Eltern oder seine Kinder. Sie versicherte ihn ebenfalls ihrer Liebe. Und er war überzeugt, dass sie nicht log, wenn sie sagte, dass sie solche Gefühle nie für möglich gehalten hätte.
Die Flucht war bis ins kleinste Detail geplant. Die schöne Krankenschwester ging auch zur verabredeten Zeit an Bord. Nur er tauchte nicht auf. Sie erzählte ihm hinterher, wie es für sie gewesen war, und er hielt dies alles in seinen Briefen fest: Eine Woche lang wartete sie auf ihn in einer billigen Pension im walisischen Swansea. Jeden Tag ging sie zum Hafen, wenn die Fähre von Cork anlegte. Als sie kaum noch Geld hatte, fuhr sie wieder zurück, erzählte im Krankenhaus etwas von einem familiären Notfall,
der sie gezwungen hatte, nach Wales zu fahren, und als sie ihr
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