Liz Balfour
sein, dass er sich nicht mehr einfach ins Cottage schlich. Auch war es für mich eine Erleichterung, endlich Klarheit über meine Gefühle zu haben. Eoin stand eindeutig auf der falschen Seite.
Ich griff zum Telefon, um Kate anzurufen. Es war ein Ritual, in solchen Momenten meiner besten Freundin haarklein zu erzählen, was geschehen war. Aber dann fiel mir wieder alles ein: ihre Vorwürfe gegen mich und Simon Simm, Benjamins Zweifel an ihrer Rechtschaffenheit … Ich hatte in der Sorge um meine Mutter tatsächlich für eine Weile vergessen, in welchen Problemen sie steckte.
Offenbar war ich nicht nur eine schlechte Tochter, sondern auch eine grauenhafte Freundin.
Kate wusste gar nicht, was bei mir los war. Sie würde denken, ich wollte einfach nicht mit ihr reden. Ich wählte ihre Nummer, aber sie antwortete nicht. Nicht einmal die Mailbox war eingeschaltet. Also schrieb ich ihr eine SMS, in die ich das Wichtigste hineinzupacken versuchte:
»Deirdre nach Herzinfarkt im Koma!!! Bin bei ihr. Kümmere mich so schnell es geht um Simm. Sorry, war abgetaucht. Kuss!«
Es war mittlerweile schon spät, aber ich war noch lange nicht müde. Ich beschloss, meine Inspektion des Cottage weiterzuführen und ging zurück in Deirdres Schlafzimmer, zurück zu den Fotoalben. In London hatte ich kein einziges Familienfoto. Ich war nicht der Typ dazu, und auch Benjamin legte keinen Wert darauf, die lächelnden Gesichter seiner Eltern im Flur hängen zu haben. Es standen keine Fotos auf Kommoden, und es hingen keine an den Wänden. Wir hatten nicht einmal unser Hochzeitsfoto gerahmt. Natürlich hatten wir Bilder von Urlauben, Ausflügen oder Partys, aber die waren auf unseren Computern oder in den Handys gespeichert.
Dabei hatte ich es als Kind geliebt, Bilder zu machen. Meine Eltern hatten eine Kodak Pocket Instamatic, die sie mir manchmal unter strenger Aufsicht überließen. Die Bildqualität war nicht sehr gut gewesen, hatte aber ihren Zweck erfüllt. Mir fiel wieder ein, dass vor allem meine Mutter fotografiert hatte. Daran, dass mein Vater jemals zur Kamera gegriffen hatte, konnte ich mich nicht erinnern. Ich wusste noch, dass wir ganz oft Passanten gefragt hatten, ob sie ein Bild von uns machen könnten.
Ich sah Fotos von mir, wie ich in unserem kleinen Garten spielte, wie ich am Strand buddelte, wie ich meine Lieblingsstofftiere mit mir herumschleppte. Fotos von mir und meinen Eltern bei unseren wenigen Urlauben, die uns immer in die Gegend von Galway oder Limerick geführt hatten. Die letzten Fotos, die ich fand, waren von 1991. Mein 12. Geburtstag war festgehalten, ein paar
Schnappschüsse aus den folgenden Monaten – ich war bereits ein kamerascheues, pubertierendes Wesen geworden – , und dann folgten nur noch leere Seiten.
Zwei Dinge waren mir aufgefallen: In all den Jahren war außer uns dreien nie jemand anderes auf den Fotos zu sehen gewesen. Und wann immer wir zu dritt fotografiert wurden, stand ich näher an meiner Mutter als an meinem Vater. Mein Vater sah eigentlich immer so aus, als hätte man ihn gezwungen, sich zu uns zu stellen. Meistens machte er ein ernstes Gesicht, oft wirkte er sogar etwas überrascht, als verstünde er nicht ganz, was gerade geschah. Deirdre und ich lächelten wenigstens. Nur auf den Fotos, die ich gemacht hatte, stand mein Vater ganz nah bei meiner Mutter. Manchmal hatte er sogar den Arm um sie gelegt.
Von den Zeitungsausschnitten, die Deirdre zwischen die Seiten gelegt hatte, überflog ich zunächst nur die Überschriften. Es ging immer um den Nordirlandkonflikt, um Häftlinge im Maze Prison, um den Hungerstreik. Ich hatte nicht gewusst, dass meine Mutter politisch interessiert gewesen war. Innerhalb der Familie war Politik nie ein Thema gewesen. Ganz im Gegenteil: Wann immer ich während der Fernsehnachrichten Fragen hatte, wurden diese von meinem Vater mit einem eindeutigen »Frag in der Schule nach« beantwortet, und meine Mutter schwieg, ihr abwesendes Lächeln auf den Lippen. Ich legte die Ausschnitte zurück in die Fotoalben und nahm mir einen der Schuhkartons vor. Darin fand ich sieben getrocknete Rosen, die durch meine Berührung auseinanderfielen. Zwischen den mürben Blütenblättern blitzte ein Schmuckstück auf: eine silberne Kette mit einem
großen grünen, herzförmigen Stein. Ich nahm sie vorsichtig heraus und sah sie mir genauer an. Wenn mich nicht alles täuschte, handelte es sich bei dem Stein um einen Smaragd. Er hatte einen Durchmesser von ungefähr fünf
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