Liz Balfour
Zimmerchen im Wohnheim betrat, fand sie Briefe von ihm. Er schrieb ihr, dass sein Sohn in der Nacht vor ihrer Flucht lebensbedrohlich erkrankt sei. Er hatte sich um den Jungen kümmern und ihn ins Krankenhaus bringen müssen. In ihr Krankenhaus. Der nächste Brief war noch um einiges panischer, denn da hatte er verstanden, dass sie ohne ihn gefahren war. In der irren Hoffnung, sie würde irgendwie doch noch seine Zeilen lesen, bat er sie, sofort zurückzukommen, ihm ein Lebenszeichen zu schicken, irgendetwas, das ihm zeigte, dass sie ihm nicht böse war, ihn verstand. Er suchte das gesamte Krankenhaus nach ihr ab, wann immer er seinen Sohn besuchte, und immer wieder schrieb er ihr, wie sehr er sie liebte, beschwor sie, sich bei ihm zu melden.
Tatsächlich ging sie zur Kinderstation, um zu sehen, ob er dort war. Sein Junge wurde an dem Tag entlassen, und Naoise konnte nicht mit ihr sprechen. Aber sie sahen sich für einen kurzen Moment in die Augen, ihre Hände berührten sich wie zufällig, ohne dass es jemand bemerkte, und das Feuer loderte wie eh und je. Wie könnte sie ihm auch vorwerfen, dass er sich um sein Kind kümmerte, wenn es in Lebensgefahr schwebte? Was wäre er für ein Mensch, wenn er es nicht täte?
Dann bekam er Zweifel. Nicht etwa an seiner Liebe zu der schönen jungen Frau, sondern daran, ob das alles sein sollte, ja, sein durfte. Er sprach sogar davon, dass die akute Krankheit seines Sohns just in der Nacht vor ihrer geplanten Flucht ein Zeichen gewesen sein könnte. Ein Zeichen einer höheren Macht, die verhindern wollte, dass er etwas Falsches tat.
Zunächst versuchte sie, seine Bedenken zu zerstreuen. Je drängender ihr Bitten wurde, er möge sich nicht von solchem Aberglauben leiten lassen, desto mehr verkroch er sich. Als sie anfing, sich von ihm zurückzuziehen, kam er wieder aus der Deckung. Nun bettelte er um Verständnis, um ihre Liebe, um etwas mehr Zeit. Sie trafen sich wieder öfter, und sie gab sich ihm ganz hin, versprach ihm sogar, so lange auf ihn zu warten, bis er bereit war, diesen Schritt mit ihr zu wagen, ganz egal, wann das sein würde.
Die Briefe, die dann folgten, waren nicht mehr datiert. Ich versuchte, sie zu sortieren, schlief aber darüber ein. Was ich jedoch zuletzt gelesen hatte, brachte meine Gedanken zum Rasen: Die schöne Krankenschwester war schwanger von Naoise. Natürlich war sie niemand anderes als Deirdre. Deirdre, die Traurige, die der Sage nach mit dem schönen jungen Krieger Naoise durchbrannte, statt den König zu heiraten. So stand es in einem Brief, und so hatte es mir Eoin in der Nacht zuvor erzählt. Deshalb also hatte sich der Mann mit dem gebrochenen Bein Naoise genannt.
Alles, was ich über Naoise bisher wusste, war, dass er eine Pferdezucht hatte, außerdem bis 1974 drei Kinder. Ich kannte sein Alter und wusste ungefähr, wann er geheiratet haben musste, und dass er meist mit M. unterschrieb. Es ließ mir keine Ruhe. Ich suchte den gesamten Morgen in der Bibliothek und den Stadtarchiven zusammen, was ich brauchte, und noch vor Mittag stand nur ein möglicher Name auf meiner Liste, um wen es sich bei Naoise gehandelt haben konnte: Martin O’Connor.
Es gab viele O’Connors. Aber wie viele O’Connors hatten 1975 Söhne mit Namen Eoin bekommen? War Deirdre tatsächlich die Geliebte von Eoins Vater gewesen?
Und war ich das Kind, das sie von Martin erwartet hatte? Dann wäre ich Eoins Halbschwester. Oh Mutter, dachte ich, du musst endlich aufwachen, sonst werde ich noch verrückt!
Geliebte Deirdre,
Frohe Weihnachten! Schade, dass wir erst im neuen Jahr miteinander feiern werden aber das nächste Weihnachten wird zu dritt sein! Ich kann es kaum erwarten.
Dieses letzte Mal bin ich bei meinen vier Kindern und deren Mutter ich bringe es nicht mehr fertig, sie »meine Frau« zu nennen. Sie wissen noch nicht, dass wir zum letzten Mal alle zusammen feiern, aber gleich an Neujahr sage ich es ihnen. So wie wir es besprochen haben.
Du hattest natürlich recht. Ich konnte meinen Kindern unmöglich vor den Feiertagen die Wahrheit sagen. Ich sehe in ihre strahlenden Gesichter, ich spüre, dass sie mich lieben was hätte ich ihnen nur angetan, wenn ich in dem Moment gegangen wäre, als ich hörte, dass wir beide ein Kind erwarten? Du bist in solchen Dingen einfach viel klüger als ich, aber das habe ich schon immer gesagt und immer gewusst.
Deirdre, mein Herz, es wird nicht leicht werden, aber das ist mir egal. Wir werden für unsere Freiheit
Weitere Kostenlose Bücher