Liz Balfour
schüttelte Bücher aus, tastete Schubladen bis in die hintersten Ecken ab.
Morgens um zwei saß ich wieder vor der Kommode im Schlafzimmer meiner Mutter. Ich war fündig geworden, und zugleich umso ratloser: In einer Hand hielt ich ein Bündel Briefe, das ich in einem anderen Schuhkarton entdeckt hatte, den sie unter die Kommode geschoben hatte. Sie waren in derselben Handschrift wie der Brief, den ich bei den Rosen und dem Smaragdherz gefunden hatte. In der anderen Hand hielt ich den Pass meines Vaters, den Deirdre als Einziges von ihm aufgehoben hatte. Ein Blick auf seine Unterschrift reichte, um zu wissen, dass die Briefe nicht von ihm waren. Dazu brauchte ich keinen Graphologen. Ich nahm die Sachen mit in mein altes Zimmer. Das Bett war frisch gemacht, als hätte Deirdre mich erwartet. Der Mond war heute erst sehr spät aufgegangen, und gerade trat er in mein Schlafzimmerfenster. Ich löschte das Licht, ging ans Fenster und sah in den Himmel.
Sollte ich wirklich diese Briefe lesen? Wie würde ich mich fühlen, wenn jemand alte Liebesbriefe, die nur für meine Augen gedacht waren, lesen würde? War ich nicht hergekommen, um nach Dingen zu suchen, die ich mit ins Krankenhaus nehmen konnte, Dinge, die ihr guttaten, die vielleicht dabei halfen, dass sie wieder aufwachte? Nein, die Briefe gingen mich genauso wenig an wie ein altes Tagebuch. Sie waren Deirdres Privatsache.
Gleichzeitig wusste ich, dass ich die Briefe lesen würde. Jeden einzelnen von ihnen. Ich öffnete das Fenster, ließ die kühle Nachtluft in das kleine Zimmer und atmete tief ein.
Liebste,
die ganze Nacht liege ich schon wach und kann nur an dich denken, an dich und unser Kind, das du in dir trägst was für eine Nachricht, was für eine unglaubliche Nachricht! Es muss Gottes Wille gewesen sein, dass du schwanger geworden bist. Oder ist die Pille, die dir deine Kollegin heimlich aus England mitbringt, doch nicht so sicher? Wie auch immer, ich freue mich ich kann nicht anders, als darüber nachzudenken, wie unser Kind wohl werden wird… Ich hoffe, es wird so schön, so verwegen, so stark sein wie du!
Deirdre, mein Herz, ich bewundere deinen Mut. Zu sagen, dass du das Kind unter allen Umständen zur Welt bringen wirst, ganz egal, wie ich dazu stehe, erfordert mehr Kraft, als ich offensichtlich bisher in der Lage war aufzubringen. Aber jetzt habe ich die Kraft dank unseres Kindes. Jetzt kann ich nicht anders. Ich werde den entscheidenden Schritt tun.
Meine wunderbare, mutige, einzigartige geliebte Deirdre! Unser gemeinsames Leben liegt direkt vor uns. So viel, was noch auf uns wartet.
In Liebe,
M.
13.
»Geht es ihr schon besser? Sag ihr alles Liebe von mir. Vielleicht kann sie dich hören. Ich denk an euch.«
Kates SMS weckte mich um halb sieben. Ich war irgendwann eingenickt. Das letzte Mal hatte ich um zwanzig nach vier auf die Uhr gesehen.
»Sie liegt IMMER noch im Koma!!! So viel passiert, MÜSSEN reden! Leider nichts Neues wg. Simm …«, schrieb ich ihr zurück. Darum würde ich mich auch noch kümmern. Erst musste ich mir alte Melderegister des Countys besorgen, danach ins Krankenhaus, und dann hierher zurückfahren, um die Briefe zu Ende zu lesen. Zuallererst aber musste ich unter die Dusche, um einen klaren Kopf zu bekommen. Ich hatte wirklich das Gefühl, mein Gehirn würde jeden Augenblick explodieren, so aufgewühlt war ich. Unter dem heißen Wasserstrahl setzte ich das, was ich gelesen hatte, noch einmal zusammen, und meine Phantasie füllte die Lücken aus.
Die Briefe erzählten, so weit ich sie gelesen hatte, eine Liebesgeschichte, die sieben Jahre vor meiner Geburt begonnen hatte. Wie ein Märchen klang diese Geschichte. Sie handelte von einem jungen Mädchen Anfang zwanzig, das als Krankenschwester in einem Krankenhaus in Cork arbeitete. Dort verliebte sich einer der Patienten in
sie, ein junger Mann, der einen komplizierten Beinbruch erlitten hatte und deshalb sehr lange auf ihrer Station liegen musste. Das Mädchen war bei allen beliebt, weil sie freundlich und hilfsbereit war. Ihre fröhliche Art half den Patienten beim Gesundwerden, und ihre Kolleginnen mochten sie, weil sie immer zur Stelle und nie um ein freundliches Wort verlegen war. Und weil sie so schön war wie kaum eine andere, waren die Ärzte reihenweise in sie verliebt. Die Ärzte, die Patienten, und ganz besonders dieser Patient mit dem gebrochenen Bein. Auch sie verliebte sich schnell in ihn.
Er nannte sich Naoise, wie eine irische
Weitere Kostenlose Bücher