Lob der Grenze - Kritik der politischen Unterscheidungskraft
andererseits immer von einer doppelten Ambivalenz gekennzeichnet bleiben: Einmal wird jede Grenze nur eine vorläufige sein, jede europäische Außengrenze wird wieder in Frage gestellt werden können. Und zum anderen wird das Projekt der europäischen Einigung immer als Fortschrittsprojekt deklariert werden und, gemessen an den Einigungsutopien, die seit dem 17. Jahrhundert in Europa diskutiert werden, als gelungene oder eben misslungene Einlösung eines europäischen Versprechens gelten. Diese Einigung wird angesichts der prinzipiellen Erosion politischer Grenzen aber zunehmend mit dem Makel eines antiquierten Politikverständnisses behaftet sein. Ein entfesselter Weltmarkt, auf dem global agierende Konzerne eine Epoche der Refeudalisierung und damit der staatlichen Entgrenzung im Weltmaßstab einleiten, könnte im Grunde auch auf das europäische Projekt verzichten. Gerade angesichts der vielbeschworenen Globalisierung ist das Konzept eines Binnenmarktes eigentlich unzeitgemäß. Möglich, dass Europa sich zu bestimmten Formen des Unzeitgemäßen offensiv bekennen müsste, wollte es seine Chancen waren. Realistisch muss man aber davon ausgehen, dass auch der weltweite Kapitalismus – nicht zuletzt, weil die Konzerne als die neuen Herren noch nicht begriffen haben, welche Sicherheits- und Ordnungsfunktionen ihnen aus der übergroßen ökonomischen Macht erwachsen – mit konventionellen Territorialstaaten, die diese Funktionen noch erfüllen, kooperieren wird, und dies vor allem dort, wo Unternehmensinteressen und nationale Interessen sich zumindest fallweise noch berühren. Wie der Stand der Dinge ist, werden nur selbstbewusste Staaten oder Staatenverbände diese Kooperationen eingehen und damit als politische Räume überleben können – die USA, Russland, China, Indien, vielleicht Japan und Brasilien und, wenn es denn gewollt wird, die EU. Der arabisch-islamische Raum steht nach den Revolten in Ägypten, Libyen und Syrien demgegenüber in einer noch nicht definierten Wartehaltung, das südliche Afrika bleibt weiter nur Objekt, nicht Subjekt der Weltökonomie. Zahlreiche Regionen dieser Erde werden so letztlich entstaatlicht, und damit in einer Weise grenzenlos werden, die vor allem den Armen und Ärmsten demonstrieren wird, dass Grenzen nicht nur die Funktion der Abschottung, sondern immer auch die des Schutzes gehabt hatten. Ob sich die drei oder vier Milliarden Menschen, die eher zu den Opfern dieser Entgrenzung gehören werden, damit auch demütig abfinden werden, ist allerdings eine andere Frage, eine, auf die sich eine wirklich globale Politik beizeiten einstellen sollte. Für Europa allerdings könnte die Frage, wie es nicht nur politisch-militärisch, sondern vor allem geistig seine Grenze bestimmt, zur Überlebensfrage werden.
Urbanität
An den Grenzen der Stadt
Einen bitteren Beigeschmack muss auch jener spätmittelalterliche Heerführer auf den Lippen gehabt haben, der einem schnöden Verrat zum Opfer fiel und nun – vor den Toren einer Stadt – das Beil des Henkers vor sich aufblitzen sah. Ob er in diesem Moment an die unerfüllte Maxime seines Lebens dachte? Immerhin: Der Wahlspruch des Ritters Andreas Baumkircher, des Freiherrn von Schlaining, hatte gelautet: »Die Burg für den Teufel, die Stadt für die Welt und das Kloster für sein Himmelreich.« 92 Damit hatte sich der Kampfgefährte und spätere Gegner Kaiser Friedrichs III. nicht nur einen Leitspruch für sein Leben gegeben, sondern auch den Horizont des mittelalterlichen Denkens noch einmal abgeschritten, dem Goethe im Faust die klassische Formulierung gegeben hatte: »Vom Himmel durch die Welt zur Hölle.« 93
Im Spannungsfeld zwischen diesen Sphären bewegte sich der Mensch, ihnen hatte er sich zu stellen. Der Ritter Baumkircher wollte sich offensichtlich mit all diesen Sphären gut stellen, für den Teufel als Vertreter der Hölle baut er die Burg Schlaining, den Himmel möchte er mit der Errichtung eines Klosters gewinnen, für die Welt, den Ort, an dem der Mensch die Zeitspanne seines irdischen Lebens verbringen muss, gründet er eine Stadt. Die Zuordnung der Bauvorhaben zu den Dimensionen christlich-religiöser Seinsvorstellungen ist durchaus sinnig: Die Burg repräsentiert nicht nur Macht und Schutz, sondern war auch ein Symbol für Gewalt und Krieg, für Belagerung und Verrat, und manch eine Sage erzählt von Teufelsburgen, die sich dem Bösen selbst verdanken. Das Kloster wiederum galt als Vorschein himmlischen
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