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Lob der Grenze - Kritik der politischen Unterscheidungskraft

Lob der Grenze - Kritik der politischen Unterscheidungskraft

Titel: Lob der Grenze - Kritik der politischen Unterscheidungskraft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul-Zsolnay-Verlag
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lebt, sondern nur für kurze Zeit seinen Geschäften nachgeht, ist man, den Versicherungen der modernen Nomaden zum Trotz, immer nur Tourist oder Besucher.
    Dem organischen Gebilde der Gemeinschaft stellt Tönnies nun das künstliche Gebilde der Gesellschaft gegenüber. Während Gemeinschaft der Ort der Ver- und Gebundenheit ist, ist Gesellschaft der Ort der Freiheit. Subjekt der Freiheit ist das aus allen Bindungen entlassene Individuum, Urbild dieser Freiheit ist der Handel, ihre erste paradigmatische Erscheinungsform ist der Händler: »Der Kaufmann […] ist der erste denkende und freie Mensch, welcher in der normalen Entwicklung eines sozialen Lebens erscheint.« 73 Während die Gemeinschaft bindet, setzt die Gesellschaft die Menschen frei. Diese stehen einander natürlich nun nicht fremd und abweisend gegenüber, denn auch die Gesellschaft ist eine Form des Zusammenlebens. Aber die Individuen einer Gesellschaft bilden keine durch welche Kriterien auch immer festgelegte Gemeinschaft, sondern sie interagieren über einen Markt, im unmittelbaren und auch im übertragbaren Sinn.
    Die Mitglieder einer Gesellschaft haben Interessen, die sie verfolgen, und sie sehen den anderen entweder als Bedingung für die Befriedigung dieser Interessen oder als Konkurrenten. Dementsprechend schließen sie nur strategische, zeitlich begrenzte Bündnisse, die formale Form ihrer Beziehung untereinander ist der Vertrag, die entscheidende Gestalt ihrer Kommunikation ist der Tausch, das Medium desselben das Geld. Die Maxime ihres Handelns ist das Nutzenkalkül, und aus der Abwägung ihrer Interessen und Bedürfnisse ergeben sich ihre Werte: »Damit eine Sache überhaupt als gesellschaftlicher Wert gelte, dazu ist nur erforderlich, dass sie auf der einen Seite im Ausschluss gegen andere gehabt, auf der anderen von irgendeinem Exemplar der menschlichen Gattung begehrt werde; alle ihre übrige Beschaffenheit ist schlechthin gleichgültig.« 74 Werte drücken also Präferenzen und Begehrlichkeiten aus und können sich in dem Maße so rasch ändern wie diese. Gemeinschaften beruhen im Gegensatz zu Gesellschaften eben nicht auf Werten, sondern auf allen individuellen Präferenzen vorgeordneten »Stiftungen«: eine gemeinsame Abstammung, ein Bund, ein Schicksal, eine Geschichte, ein Mythos. Die vielbeschworene Wertegemeinschaft erweist sich unter dieser Perspektive als ein Widerspruch in sich. Gerade weil Werte je nach geänderter Interessenlage jederzeit »umgewertet« werden können, stellen sie keine verlässliche Basis für eine Gemeinschaft dar.
    Auch wenn in der Terminologie an manchen Stellen vielleicht veraltet, sind Tönnies’ Grundkategorien seiner »reinen Soziologie« nach wie vor bedenkenswert. Sie haben den Vorteil einer klaren begrifflichen Schärfung. Was bedeutet das für unsere Frage? Pointiert könnte man sagen: Alles, was Tönnies über die Gesellschaft sagt, trifft auf die EU zu, nichts von dem, was er für eine Gemeinschaft behauptet, finden wir in dieser. Die vier Freiheiten der EU (Personen, Güter, Dienstleistungen und Kapital) gehören fast zur Gänze zu den Bedingungen der Gesellschaft, Zyniker könnten sogar behaupten, dass sich dahinter ohnehin nur die von Marx so genannte »gewissenlose Handelsfreiheit« verbirgt, die alle anderen Formen der Freiheit in sich aufgesogen und aufgehoben hat. Alles aber, was tatsächlich gemeinschaftsbildend wirken könnte, ist in der EU entweder ein Ding der Unmöglichkeit oder tabuisiert.
    Das beginnt mit der »Gemeinschaft des Blutes«, unter der man weniger pathetisch die ethnischen und familiären Gemeinschaftsstrukturen verstehen kann. Jeder weiß, welche Kraft noch immer von diesen Bindungen ausgeht – von tradierten und neuen Formen der Familie über Migrationskulturen bis zu mafiosen Organisationsformen –, und gleichzeitig ist klar, dass ein europäisches Gemeinschaftsgefühl nicht das Gefühl einer Familie, eines Clans, einer Sippe sein kann. Eher wird man zu der Auffassung gelangen, dass eine zu starke Betonung dieser Form von Gemeinschaft zu jenen Parallelwelten führt, in denen man nicht nur eine Bereicherung, sondern auch eine Gefahr für das soziale Gefüge einer modernen Gesellschaft sehen kann. Wenn die Differenzierung von Tönnies nach wie vor triftig sein sollte, dann würde dies auch bedeuten, dass Mitglieder einer wirklich bindenden Gemeinschaft im Ernstfall dieser den Vorzug gegenüber anderen gesellschaftlichen Normen und Kommunikationsformen geben würden,

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