Lob der Grenze - Kritik der politischen Unterscheidungskraft
Lebens im Irdischen, eine Enklave der Transzendenz in der profanen Welt. Und die Stadt war das sinnige Synonym für diese Welt – nicht das Land, nicht das Dorf. Insoweit der Mensch in dieser Welt, irgendwo zwischen Himmel und Hölle, lebt und leben muss, wird ihm die Stadt zur angemessenen Existenzform und zum Bild und Abbild seiner Weltlichkeit. Und die Gründung einer Stadt ist deshalb der Inbegriff dessen, was der Ritter für das Leben der Menschen in dieser Welt tun kann. Eine Stadt aber – und dies zeigt eine eigentümliche Ambivalenz – wird Andreas Baumkircher auch zum Verhängnis. Gegen die Zusicherung freien Geleits begibt er sich zu Verhandlungen mit Friedrich III. nach Graz, wird hintergangen, gefangen genommen und am 23. April 1471 vor den Toren der Stadt öffentlich hingerichtet. Sein Kloster konnte der Heerführer deshalb nicht mehr bauen, für das Himmelreich blieben in dieser Welt und ihren Städten kein Platz und keine Zeit mehr.
Diese kleine Anekdote aus dem späten Mittelalter unterstreicht, dass die Bedeutung, die Urbanität in der Gegenwart hat und in der nahen Zukunft haben wird, auch aus einem Denken resultiert, das tief in die europäische Vergangenheit reicht und eben in der Stadt den Inbegriff von Welthaltigkeit sah. Alles, was menschliches Leben und Zusammenleben im Guten wie im Schlechten ausmacht, scheint in der Stadt seinen intensivsten Ausdruck zu finden. Die Stadt ist der Ort der Hoffnungen und der Ängste, der Sehnsüchte und der Begierden, Stadtluft macht frei, hieß es im Mittelalter, Stadtluft macht krank, heißt es unter den Smogglocken moderner Großstädte, die Stadt wird als Ort der Individualität, der Kreativität und der unbegrenzten Möglichkeiten gesehen, aber auch – vor allem die Großstadt – als unersättlicher Moloch, eine Maschine, die Menschen ansaugt, aussaugt und wieder ausspeit, eine Stadt ist immer in Bewegung, kommt nie zur Ruhe, die Rhythmen der Verkehrsströme und der industriellen Arbeit, die künstlichen Beleuchtungen haben den natürlichen Wechsel von Tag und Nacht, von Aktivität und Ruhe längst abgelöst. Eine Stadt verheißt den Schutz und die Freiheit der Anonymität und droht mit der Gleichgültigkeit von Menschen, die beziehungslos nebeneinander, aber nicht miteinander leben können.
Eine Stadt ist aber immer mehr als eine Agglomeration von Wohnbauten; eine Stadt ist mehr als eine Ansammlung von Menschen; eine Stadt ist mehr als ein Geflecht von Straßen; eine Stadt ist mehr als eine Anhäufung von Geschäften; eine Stadt ist mehr als eine nicht abreißbare Kette von Verkehrsströmen, die sich immer wieder zu Staus verdichten. Eine Stadt ist eine spezifische Form der Organisation menschlichen Lebens und Zusammenlebens, und trotz aller Wandlungen, die europäische Städte in den letzten zweieinhalb Jahrtausenden in ihrer Gestalt und ihrer Funktion, in ihren Rhythmen und in ihrer Identität erfahren haben, hielt sich etwas durch, das man den Geist der europäischen Urbanität nennen könnte. Und ob die Städte der Zukunft noch lebenswert sein werden, hängt auch davon ab, was sich von diesem Geist behaupten und immer wieder neu gewinnen lässt.
Urbanität meinte nie nur ein verdichtetes Siedlungsgebiet, sondern stets eine spezifische Form von Kultiviertheit. Für die antike und mittelalterliche Rhetorik bezeichnete urbanitas einen bestimmten Schreib- und Sprachstil, der durch Eleganz, Subtilität, Witz, Einfallsreichtum gekennzeichnet war. Die Weltläufigkeit und Toleranz, die man bis heute gerne als urbanes Verhalten beschreibt, haben in dieser urbanitas eine ihrer Wurzeln. Nur in der Stadt lassen sich diese Eigenschaften und Tugenden ausbilden, nur in einer Stadt mit ihren vielfältigen Erfahrungs- und Begegnungsmöglichkeiten gibt es diese spezifische Form einer Kultiviertheit, die freilich bis zur blasierten Attitüde des Dandys, bis zur Arroganz des Snobs und zur überheblichen Selbstgefälligkeit der Yuppies und Bobos reicht. Die Stadt produziert auch Überlegenheitsgefühle, die mitunter alles andere als angebracht sind. Eine seit der Antike tradierte Pointe von Urbanität als einer spezifischen Kultur besteht übrigens darin, dass diese sich als Gegenbild und Gegenmodell zur ursprünglichen Kultur versteht, die eben, wie das Wort andeutet, Agrikultur, die Kultivierung des Landes, gewesen war. Urbanität, so könnte man sagen, ist die Kultivierung des Menschen ohne Grund und Boden. Das macht die Freiheit, aber auch die Gefährdung des
Weitere Kostenlose Bücher