Lob der Grenze - Kritik der politischen Unterscheidungskraft
städtischen Lebens aus.
Die europäische Stadt – und von einer anderen soll hier nicht die Rede sein – ist durch einige Charakteristika gekennzeichnet, die sich, wenn auch in unterschiedlicher Form und Intensität, generell feststellen lassen. An diesen lässt sich auch die zukünftige Entwicklung und Bedeutung der Städte messen und bewerten. Vorab ist die europäische Stadt durch ihre historische Tiefendimension gekennzeichnet: Ihre Wurzeln reichen weit zurück, in Südeuropa und im Gebiet des ehemaligen Imperium Romanum bis in die Antike, ansonsten zumindest bis ins Mittelalter, und auch dort, wo späte Neugründungen vorliegen, wie etwa im Falle von Sankt Petersburg, empfinden wir diese Anlage im besten Sinne als historisch. Was aber bedeutet diese Geschichtlichkeit für eine moderne europäische Stadt? Unmittelbar sind viele Städte durch die Schichten der Vergangenheit geprägt: An der Anlage, dem Stadtkern, den Bauten, manchen Straßenverläufen, lässt sich bis heute die wandelnde Geschichte einer Stadt ablesen, die gleichzeitig in ihrer Erscheinungsform verschiedene Epochen repräsentiert: antike Mauerreste, frühchristliche Gräber, mittelalterliche Stadttore, spätgotische Rathäuser, Arkadenhöfe aus der Renaissance, barocke Sakralbauten, klassizistische Stadtpalais, Bürgerhäuser und Mietskasernen der Gründerzeit, Jugendstilfassaden, Bauhausarchitektur, klassische Moderne und postmoderne Shoppingcenters: All das mag sich in einer durchschnittlichen europäischen Stadt finden, prägt ihre Atmosphäre und bestimmt das Lebensgefühl ihrer Bewohner und Besucher. Städte in diesem Sinne sind Speicher des kollektiven Gedächtnisses, Erinnerungsorte im Wortsinn, die nicht nur an Vergangenes gemahnen, sondern auch – insofern diese Zeugen der Vergangenheit noch funktionsfähig und Teil des aktuellen Stadtlebens sind – augenfällig demonstrieren, wie Vergangenes weiterleben kann. Keine Stadt also ohne Stadtgeschichte, nur in der Stadt – ganz anders wie am Land, wo die Zeugen der Vergangenheit isoliert in der Landschaft stehen: Ruinen, Burgen, Schlösser, alte Gehöfte – fügen sich die Schichten der Geschichte zu einem lebenden Ensemble, zu einer Einheit, an der immer weitergebaut wird. Sich dessen bewusst zu sein, und in der Stadt, in der man lebt, auch diese Dimension geronnener europäischer Erfahrungen wahrnehmen zu können, ohne der Gefahr der Musealisierung zu erliegen, muss eine wesentliche Aufgabe einer Stadtpolitik sein, die sich der Bedeutung der Städte als lebendes Gedächtnis bewusst sein will.
Die europäische Stadt, und das hat natürlich auch mit ihrer Entstehungsgeschichte zu tun, definiert sich durch die Differenz zu ihrem Umfeld: dem Land. Städte haben Grenzen, weniger scharf formuliert: Ränder. Nur dort, wo man auch am Stadtrand leben kann, handelt es sich im strengen Sinn um Städte. Das hat viel mit der ursprünglichen politischen Verfasstheit von Städten zu tun, ihren Sonderrechten, ihren Privilegien, ihren autonomen Verwaltungs- und Regierungsformen, nicht zuletzt auch mit ihrer ökonomischen Verfasstheit: In den Städten wird gehämmert und gehobelt, gehandelt und gefeilscht, neben der Kirche ist der Markt ihr eigentliches und erstes Zentrum, die Stadt ist der Ort des Handwerks und der kommunalen Bürokratien, die Lebensmittel aber werden außerhalb der Stadt produziert und müssen in diese transportiert werden. All das verlangt ein klares Bewusstsein davon, wo eine Stadt beginnt und wo sie endet. Auch dort, wo der militärische Nutzen von Stadtmauern nicht mehr ersichtlich war, deuteten diese Mauern lange diese Grenzen an, stärker vielleicht noch die Stadttore, die eindeutig signalisierten: Nun befindet man sich innerhalb eines ganz bestimmten Rechtsraumes, einer spezifischen Struktur des Lebens, in der andere Gesetze und Sitten gelten als am Land.
Man darf in diesem Zusammenhang nicht vergessen, dass ein wesentlicher Teil unserer politischen demokratischen Kultur auf diesen autonomen, abgegrenzten Rechtsraum der Städte zurückzuführen ist. Die Demokratie ist eine Erfindung der Polis, der antiken griechischen Stadt, die sich als politische Einheit verstand. Die Idee und der Begriff der Politik selbst gehen auf diese Deutung der Stadt zurück, ebenso der Bürger, der unabhängige Gerichtshof, die Versammlung als politisches Gremium, auch die Idee, dass Städte als Subjekt und Objekt politischen Handelns in ihrer Entwicklung nicht dem Zufall überlassen werden
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