Lob der Grenze - Kritik der politischen Unterscheidungskraft
dürfen, sondern dass die Bürger einer Stadt auch über deren Gestalt und die Regeln, die in ihr gelten, bestimmen sollen. Es ist nicht die territoriale Flächenherrschaft, die vielleicht älter ist als die Stadt, es ist auch nicht das Netz persönlicher Abhängigkeiten, das die feudalen Herrschaftsformen bis an die Schwelle zur Moderne kennzeichnete, es ist die selbstbewusste Stadt, die zum Modell für moderne politische Strukturen wurde. Gerade wer am neuen Europa mitbauen will, darf diese Dimension der europäischen Stadt nicht vergessen. Politische Entscheidungen, aber auch politische Konflikte finden in den Städten statt. Wie es mit Griechenland weitergeht, entscheidet sich auch im Zeitalter der virtuellen Kommunikation und der globalisierten digitalen Datenströme in den Straßen von Athen, nicht in den idyllischen kretischen Dörfern.
Keine Frage, dass diese für die politische Konzeption der Stadt so wichtige Grenze zwischen Innen und Außen durch die Entwicklungen seit dem 19. Jahrhundert nicht nur immer weiter verschoben, sondern überhaupt immer mehr an Konturen verloren hat. Viele Städte sind in den vergangenen 150 Jahren rasant gewachsen, haben alle vorhandenen Grenzen gesprengt, sind – wo immer es ging – weit ins Umland vorgedrungen, haben dieses eingemeindet, und aus ehemaligen Dörfern vor den Städten wurden neue Stadtteile und Bezirke. Noch entscheidender aber ist eine Entwicklung, die in manchen europäischen Regionen mehrere Städte zu riesigen Siedlungskonglomeraten zusammenwachsen lässt, ein Prozess der Verstädterung ganzer Landschaften, der doch, neben aller Logik, die diesem Prozess innewohnt, eine Reihe von Problemen aufwirft. Neben dem eher atmosphärischen Problem, dass man nicht mehr weiß, wann man die eine Stadt verlässt und die andere betritt, neben Fragen der Koordination kommunalpolitischer Aufgaben zwischen zusammenwachsenden Städten entstehen dadurch Siedlungsräume neuen Typs, die zwar aus historisch gewachsenen und definierten Städten entstehen, selbst aber ganz neue Strukturen entwickeln. Urbanisierung meint in diesem Sinn die Ausdehnung städtischer Lebensformen über große Regionen, ohne dass städtisch-kulturelle Binnendifferenzierungen sichtbar würden: Urbanisierung ohne Urbanität. Anstelle einer gegliederten Stadtlandschaft wird die Landschaft zur Stadt, geprägt von Straßen, Siedlungen, Tankstellen, Shops und Gewerbebetrieben. Möglich, dass wir deshalb auch den Stadtcharakter an Orten stärker wahrnehmen, wo solche Prozesse der Entgrenzung aufgrund natürlicher Bedingungen schwer oder kaum möglich sind und deshalb der Signalcharakter von Konturen erhalten geblieben ist. Wann man in Venedig ist, weiß man. Wann aber hat man Essen verlassen und ist schon in Gelsenkirchen?
Die Frage, wie man weiß, dass man in einer Stadt angekommen ist, ist deshalb für die Idee der Stadt ganz wesentlich. In der Literatur noch des späten 18. Jahrhunderts kann man solche Erfahrungen geschildert finden: was es heißt, als Wanderer, Reiter oder Benutzer einer Postkutsche in eine Stadt zu kommen. Noch in dieser Zeit ist die Grenze zwischen Stadt und Land auch eine Grenze zwischen Wildnis und Zivilisation, und die Stadttore waren das sichtbare, wenn auch nur noch symbolische Zeichen für diese Grenze. Mit der Industrialisierung änderte sich das Entree der Städte. Als Verkehrsknotenpunkte, die sie immer gewesen waren, öffnen sich die Städte rasant den neuen technischen Möglichkeiten, in erster Linie der Eisenbahn. Bahnlinien und vor allem Bahnhöfe prägten nun nicht nur die Stadtentwicklung, sondern definierten, was es heißt, in einer Stadt angekommen zu sein. Die Bahnhöfe wurden im 19. Jahrhundert als Kathedralen der Moderne geplant und gebaut, Orte, in denen das Ankommen und Abfahren alles beherrschte, und große Städte hatten wie selbstverständlich die heute ungeliebten und deshalb umgebauten Kopfbahnhöfe. Mit der Stadt hatte man sein Ziel erreicht, wohin sollte es weitergehen?
Der Bahnhof hatte so zwei deutliche Funktionen: Die Innenseite zeigte die Bahnsteige, die Schienen, die in die und aus der Stadt führen, die Fassade signalisierte schon von weitem dem sich Nähernden, dass er die neue imaginäre Grenze der Stadt, die mitten in dieser lag, erreicht hatte. Wer den Bahnhof aber durch den Hauptausgang verließ, dem öffnete sich die Stadt in all ihrer Ambivalenz. Bahnhofsstraßen waren immer auch Straßen der Sehnsüchte und der Verheißungen, der Gefahren
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