Lob der Grenze - Kritik der politischen Unterscheidungskraft
nicht zuletzt im Hinblick auf die Freiheit ihrer Mitglieder, die in einer Gemeinschaft immer mehr oder weniger restringiert sein wird. Wenn es stimmt, dass die Freiheit eine Dimension der Gesellschaft, nicht der Gemeinschaft darstellt, dann bedeutet das auch, dass Gemeinschaften tendenziell die Freiheitspotenziale einer Gesellschaft unterminieren können.
Ähnlich verhält es sich mit der Religion. Deren bindende Kraft wird uns alltäglich vor Augen geführt, aber Europa kann sich schon lange nicht mehr religiös definieren; jedoch wird die Frage, wie sich religiöse Gemeinschaften in das gesellschaftliche Gefüge Europas einordnen, für die europäische Zukunft von entscheidender Bedeutung sein. Natürlich muss der säkulare Staat auch für die Europäische Union in dieser Hinsicht das Modell bleiben, aber erste Versuche, religiösen Gemeinschaften mehr Rechte zuzugestehen, als ihnen nach diesem Modell zustünden, zeigen, wie schwierig hier die Balance zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft noch immer ist. Gerade weil die Bindungskräfte der verschiedenen Religionen an Kraft eher zunehmen, stehen säkulare Staaten vor dem Problem, diese Kräfte untereinander und dem Staat selbst gegenüber zu neutralisieren, ohne die objektiven, sozialen und kulturellen Funktionen zu übersehen, die religiöse Gemeinschaften haben. Mit Propagandafeldzügen für einen neuen Atheismus wird da wenig getan sein.
Man sollte aber auch nicht der Illusion verfallen, aus der Idee der Toleranz selbst ließe sich der Kitt für eine neue Gemeinschaft formen. Toleranz ist nämlich kein Glaube der Ungläubigen, der so etwas wie ein Gemeinschaftsgefühl säkularisierter Zeitgenossen erlaubte. Alle Versuche, über Konstrukte wie den Verfassungspatriotismus, das Bekenntnis zu den Menschenrechten oder eine von Intellektuellen konstruierte Zivilreligion solch ein Gemeinschaftsgefühl zu erzeugen, müssen dann auch scheitern. Und der Weg, den man in Deutschland manchmal vorschlägt, nämlich durch die negative historische Erfahrung der Vernichtung des europäischen Judentums durch die Nationalsozialisten eine quasireligiöse Form gemeinschaftlicher Verbundenheit über das Instrument einer stark ritualisierten Erinnerungskultur zu stiften, kann kein Modell für ein europäisches Gemeinschaftsgefühl sein, bei aller Bedeutung, die dem Zweiten Weltkrieg, seinen Ursachen und seinen Folgen für die Herausbildung der Einsicht in die Notwendigkeit eines geeinten Europa zugeschrieben werden können.
Ähnlich prekär verhält es sich mit dem Ort, der Stadt, der Nachbarschaft als Basis gemeinschaftlichen Lebens. Abgesehen davon, dass die modernen Verkehrs- und Mobilitätsformen tendenziell auch noch die Reste solcher gelebten Gemeinschaften zerstören, ist aus diesen aufgrund ihrer Gebundenheit an lokale Gegebenheiten keine Kraft für ein Zusammenleben in Europa zu gewinnen. Eher ist hier die Tendenz zu beobachten, dass durch eine globalisierte Architektur und die Dominanz internationaler Marken und Kaufhausketten im öffentlichen Bereich die Stadtzentren einander immer ähnlicher werden, ihr unverwechselbares, gemeinschaftsbildendes Ambiente auch in einem lokalen Rahmen verlieren, ohne dass dadurch für einen größeren Kontext etwas gewonnen wäre. Nur weil alle Fußgängerzonen gleich aussehen und man überall auf dieselben Geschäfte trifft, fühlt man sich noch lange nicht in allen Städten gleichermaßen zu Hause, auch wenn das praktische Leben durch diese Wiedererkennungseffekte um einiges einfacher wird.
Dies gilt auch für die Kunst, die nach Tönnies ihre gemeinschaftsbildende Potenz nur im Kontext gelebter Urbanität entfalten kann. Das ästhetisch unterscheidbare und deshalb identitätsstiftende Ensemble aus Kirche, Rathaus, Museum und Stadtplatz gibt aber weder ein Modell für eine moderne Urbanität und schon gar nicht für die Entwicklung der Künste ab, die zwar mit einer Epoche der neuen Funktionalität kokettieren, diese aber eher in globalen Märkten denn in lokalen Gemeinschaften verankert wissen möchten. Wohl können angesichts umstrittener Architekturen oder kontrovers beurteilter Kunst im öffentlichen Raum auf lokalen Ebenen die Stadtgemeinschaften noch hin und wieder mobilisiert werden, ähnlich wie bei religiösen Bauten wie zum Beispiel Moscheen, die mit dem historisch gewachsenen Ensemble und der dadurch konstituierten Gemeinschaft zu kollidieren scheinen, aber eine europäische Perspektive lässt sich weder aus diesen Konflikten
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