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Lob der Grenze - Kritik der politischen Unterscheidungskraft

Lob der Grenze - Kritik der politischen Unterscheidungskraft

Titel: Lob der Grenze - Kritik der politischen Unterscheidungskraft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul-Zsolnay-Verlag
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noch aus ihren von Ort zu Ort dann doch ziemlich differenten Lösungen ableiten.
    Bleibt die Mission als einzige Kraft, die ein europäisches Gemeinschaftsgefühl bilden helfen könnte. Für welche Idee Europa allerdings so einstehen sollte, dass sich die in Europa lebenden Menschen über diese Idee als Gemeinschaft nicht nur theoretisch, sondern vor allem praktisch fühlen könnten, bleibt wohl ziemlich schleierhaft. Einen zivilisatorischen Auftrag – wie im 18. und 19. Jahrhundert – kann und darf Europa nicht mehr beanspruchen, da dies mit einem Überlegenheitsgefühl verbunden wäre, zu dem Europa keinerlei Recht und Berechtigung mehr hat. Vor allem aber ist vieles von dem, was die besseren Seiten des europäischen Zivilisationskonzeptes ausmachte – Aufklärung, Wissenschaft, Technik, Rechtsstaatlichkeit, Bürger- und Menschenrechte –, mittlerweile selbst zu einem globalen Phänomen geworden, das bei aller Ambivalenz nicht mehr in erster Linie mit Europa assoziiert werden kann.
    Ähnliches gilt für das vielbeschworene Friedensprojekt. Dieses steht zwar am Anfang der europäischen Einigungsidee, und zwar in einer historischen Tiefe, die manchmal vergessen wird. Die ersten Konzepte eines politisch geeinten Europa wurden nach dem verheerenden Dreißigjährigen Krieg in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts entwickelt. Das moderne Europa verdankt sich zweifellos in hohem Maße der Sehnsucht nach Frieden als Folge des Zweiten Weltkriegs, auch wenn dies historisch nicht ganz korrekt ist, da die auch militärisch definierte Abgrenzung gegenüber dem sogenannten Ostblock strategisch eine ziemlich große Rolle spielte. In der Gegenwart und nach der Osterweiterung der EU ist dieses Friedensprojekt in der Tat realisiert und schon aus demografischen Gegebenheiten zu einer Selbstverständlichkeit geworden, dem keine wirklich gestaltende Kraft mehr entspringt.
    Die Idee der Nation wiederum, die seit dem 19. Jahrhundert bei der Bildung politischer Großgemeinschaften den Ton angab, ist ein Konzept, das durch Europa ja gerade überwunden werden sollte. Alle Versuche, Europa als eine Hyper- oder Supernation zu konzipieren, müssen sich die Frage gefallen lassen, warum der verpönte Nationalismus nur dann schlecht sein soll, wenn er kleine oder kleinere politische Gemeinschaften kennzeichnet, aber willkommen und gut wird, wenn es um eine überdimensionierte Größenordnung geht. Auch wenn diese Großnation die Konflikte der in ihr integrierten ehemaligen kleinen Nationen hinfällig werden lässt, ändert dies nichts daran, dass jeder überzogene Nationalismus ein Risiko darstellen wird. Warum es aus mittlerweile einsehbaren Gründen lächerlich ist, sich als glühenden Deutschen oder glühenden Österreicher zu bezeichnen, der glühende Europäer sich aber des Beifalls sicher sein kann, bleibt schleierhaft. Wer in der Politik »glüht«, sollte immer mit größter Skepsis beurteilt werden. Es ist dann auch nicht einzusehen, inwiefern das Konzept einer europäischen Nation, sofern es denn überhaupt eine realpolitische Chance hätte, das Verhängnis, das in der Idee der Nation schlechthin angelegt sein mag, neutralisieren könnte. Zu alledem kommt, dass, wenn schon, dann die Forcierung einer Gesellschaft als die gemeinsame Lebensform von Individuen gegenüber allen Zumutungen von Gemeinschaften als eine originär europäische Idee aufgefasst werden könnte.
    Vielleicht verhält es sich mit Europa als einer potenziellen Gemeinschaft ähnlich wie mit Europa als einem potenziellen Bundesstaat: Es ist noch nicht so weit, und es ist vielleicht auch gar nicht erstrebenswert. Das staatsrechtliche Neuland, das die EU mit ihrer politischen Organisationsform betrat, hat vielleicht seine Entsprechung auf der Ebene der sozialen und emotionalen Verfasstheit dieses Gebildes. Von Europa als von einem Staatenverbund zu sprechen, um zu signalisieren, dass es sich weder um einen Staatenbund noch um einen Bundesstaat handelt, ist mittlerweile üblich geworden. Vielleicht sollte man auch aufhören, Europa unbedingt als eine Gemeinschaft in einem klassischen Sinn, das heißt in einem Singular zu denken. Vielleicht wäre eine mögliche Formel für Europa: so viel Gesellschaft wie möglich, so viele Gemeinschaften wie notwendig.
    Ob und mit welcher Insistenz sich Europa als politisches Subjekt letztlich doch über seine Grenzen definieren wird – dieser Willensakt wird einerseits über Europas Lage auf der Weltbühne entscheiden, und er wird

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