Locke greift an
sich jetzt fast etwas zurück und erzielten »nur« noch zwei Tore. So stand am Spielende auf der Anzeigetafel ein schreckliches Schlussresultat: DEUTSCHLAND - ARGENTINIEN 0:6.
Das war die höchste Niederlage, die eine deutsche Nachwuchsmannschaft seit vielen Jahren erlitten hatte, und beim DSF sprach der Kommentator davon, dass Deutschland und Argentinien Welten trennen würden.
Rot im Gesicht vor unterdrücktem Zorn, ging Trainer Stettler zu seinem Kollegen aus Argentinien und gratulierte zur tollen Leistung seiner Truppe. Hier draußen hatte er sich in der Gewalt, aber im Kabinentrakt explodierte er. So hatte die U15 ihren Trainer noch nie erlebt.
»Meine Herren«, fing seine Standpauke an, und diesmal grinste bei diesen Worten keiner der Spieler. »Alles, aber auch alles, was ich euch vor dem Spiel gesagt habe, wurde nicht befolgt. Der Abstand zu euren Gegenspielern - zwei bis drei Meter. Kaum einen Zweikampf habt ihr gewonnen, eine absolute Katastrophe. Eigentlich sollten wir uns sofort von der Europameisterschaft abmelden. Das war die größte Blamage, die ich jemals mit einer Mannschaft erlebt habe«, wetterte er. »Gut, die Argentinier sind Weltklasse, aber das wolltet ihr doch auch sein! Ihr habt Kreisklasse gespielt! Verstanden? Kreisklasse! Wenn Kevin nicht noch ein paar Dinger gehalten hätte, wären wir zweistellig hier vom Platz gegangen. Zweistellig! Die türkische Mannschaft hat sich bei ihrem 1:3 ganz ordentlich verkauft. Wenn ich die beiden Spiele vergleiche, dann verlieren wir gegen die Türkei mindestens mit zwei, drei Toren Unterschied!«
Stettler unterbrach sich und keiner sagte auch nur einen Mucks, alle duckten sich und zogen beschämt die Köpfe ein, denn ihr Trainer hatte recht. Auch wenn die Argentinier eine Top-Mannschaft waren, so hätte der Ausgang des Wettkampfes nicht sein müssen …
Stettler sah seine Spieler einen nach dem anderen an, im Raum herrschte absolute Stille.
»In wenigen Tagen«, fuhr er nun mit einer Stimme fort,
die sich geradezu gefährlich anhörte, »treffen wir uns in Berlin wieder, und ich garantiere euch, das wird kein Zuckerschlecken.«
»Und jetzt«, er holte Luft, »zieht euch um, wir sehen uns in genau dreißig Minuten im Presseraum wieder - natürlich ohne Presse. Dort gebe ich das Aufgebot für die EM bekannt, obwohl ich eigentlich nicht die geringste Lust dazu habe. Nach der Leistung von eben müsste ich mir eigentlich eine neue Mannschaft suchen!«
Damit ging er aus der Umkleide und schloss die Tür hinter sich. Das Schweigen, das er hinterließ, war gespenstisch.
Eva und die Schuberts waren auf dem Weg zum Parkplatz. Die Kommentare der Fußballfans klangen ihnen wie Hohn in den Ohren. »Chaotengruppe« und »Anfänger« waren noch nette Bezeichnungen. Im Auto dann schaltete Sandra Schubert das Radio ein und die drei hörten den Schluss des Kommentars zu dem Spiel. »Diese Mannschaft ist nicht würdig, Deutschland bei der Jugendeuropameisterschaft zu vertreten.«
Einen Augenblick herrschte nun auch im Auto eisiges Schweigen. Aber dann sagte Vater Schubert leise wie zu sich selbst: »Alles Blödsinn, der Herberger hat bei der WM 1954 in der Schweiz auch erst 3:8 gegen Ungarn verloren und trotzdem - oder gerade deshalb - ist Deutschland schließlich Weltmeister geworden.«
Diese Bemerkung seines Vaters hätte Patrick sicher gern gehört und auch seine Mannschaftskameraden. Sie alle versammelten sich in diesen Minuten im Presseraum des Stadions. Die Nominierung des Kaders verlief sehr schnell und fast einsilbig. Stettler hielt sich nicht lange auf.
»Meine Herren, nicht in Berlin sind dabei: Klaus Angler,
der Stürmer vom FC Augsburg, Stephan Baler, aus dem Mittelfeld von Kaiserslautern, und Hamit Üzly, aus der Abwehr von Wattenscheid 09. Tut mir leid«, wandte er sich an die Betroffenen, »aber eure Zeit wird noch kommen. Für alle anderen«, und sein Blick ging kurz über die Truppe, »gilt nun volle Konzentration auf Berlin. Wir sehen uns. Das war’s.«
Die letzten Tage vor Beginn der Europameisterschaft nutzte Locke zur Ablenkung vom Fußball. Zu Hause in Gelsenkirchen absolvierte er brav, aber auch voller Frust seine Läufe, bei denen ihn Poldi wie gewohnt begleitete.
Und am Vorabend der Abreise nach Berlin traf er sich nochmals mit der Band in der Eintracht.
Natürlich wurde - nicht! - über Fußball geredet, das Thema sollte tabu sein für die letzten Stunden vor der Meisterschaft … Allerdings war es nicht verboten, über
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