Locke greift an
gefährliche Flanke von rechts. Rott fliegt aber förmlich aus seinem Tor und entschärft. Dieser Rott wird bestimmt einmal die Nachfolge von Oliver Kahn antreten, da bin ich mir jetzt schon sicher, auch wenn der Manager des FC Bayern, Uli Hoeness, es nicht leiden kann, wenn seine jungen Spieler so gelobt werden.« Er unterbrach sich. »Aber ich schweife ab. Wenn ich die Situation auf dem Feld betrachte: Entlastung muss her für unsere Jungs. Das kann nicht gut gehen. Deutschland steht nur noch hinten und verteidigt. Stössken, Schubert und Erde kommen nicht mehr zu Tormöglichkeiten. Jetzt wieder die Türkei im und am deutschen Fünfmeterraum in Erwartung einer Ecke. Lediglich Patrick Schubert steht noch in Höhe der Mittellinie, um möglicherweise einen Konter zu starten. Die Ecke kommt. Rott klebt auf der Linie. Da müsste er eigentlich raus, aber jetzt hat er bestimmt an seinen Fehler beim 0:1 gedacht. Was für ein Durcheinander! Wo ist der Ball? Keiner unserer Spieler kann klären. Talent Matz hat sich das Leder geangelt. Aber da stehen zwei, drei deutsche Spieler vor ihm. Matz findet die Lücke. Nein, nein, nein.
Das durfte nicht passieren. Tooooor für die Türkei! 2:2! Der Jubel hier ist so groß, ich verstehe mein eigenes Wort nicht mehr und das trotz meiner Kopfhörer.«
Die Reaktion auf der Tribüne fiel diesmal entgegengesetzt aus. Alle hatten die Hände vor das Gesicht geschlagen und mochten gar nicht auf den Platz schauen. Die Mannschaft aber reagierte ganz anders: Es war, als würde das Ausgleichstor eine Blockade lösen. Schon beim Anstoß am Mittelkreis motivierte man sich gegenseitig.
»Jetzt erst recht!«, rief Lukas Podborski, der Mittelfeldspieler vom 1. FC Köln, seinen Mitspielern zu. Stettler machte eindeutige Zeichen, dass man jetzt wieder in die Offensive gehen müsste. Gut zehn Minuten waren noch zu spielen. Reichte die Kraft? Stettler ließ überraschenderweise nicht auswechseln.
Matz und Locke, die beiden Kontrahenten in diesem Spiel, waren sich bisher auf dem Platz kaum begegnet. Jetzt aber hatten sie sich gegenseitig im Blick. Fast entschuldigend zuckte Matz mit den Schultern in Richtung von Patrick, so als wollte er sagen: »Sorry, aber das Tor musste ich machen.«
Locke hob kurz anerkennend den Daumen, dann ging es weiter. Und merkwürdig, jetzt kippte das Spiel wieder in die andere Richtung. Geradezu wie vom Teufel besessen, griff die deutsche Mannschaft an. Die türkischen Spieler fanden keine Mittel, diesen Wirbel zu unterbinden.
Treuckelmann, der Radiokommentator, redete sich fast in den Wahnsinn.
»Ich habe schon viele Spiele gesehen, unglaubliche Begegnungen, aber was die beiden Mannschaften hier leisten, ist absolut erste Sahne. Ein umwerfendes Spiel. Ich würde keine Wette auf einen Sieger abgeben wollen. Beide hätten es verdient.«
Auf der Tribüne achtete niemand auf Pfarrer Kelter. Sehr, sehr unauffällig bekreuzigte er sich und sandte ein kleines Stoßgebet an seinen Chef.
»Herr, du weißt, dass ich nur in absoluten Notsituationen um etwas bitte, aber lass jetzt das 3:2 für Deutschland fallen. Amen!«
Kaum hatte er das Gebet beendet, da kam Lukas Podborski an den Ball. Schnelles Abspiel auf Erde. Heiko zögerte keine Sekunde, er zirkelte das Leder zu Locke. Der sah Erik Stössken im Strafraum stehen. Sofort flankte er. Der Ball rutschte von seinem Fuß. Stössken erkannte, dass die Pille etwa zwei, drei Meter halbhoch an ihm vorbeifliegen würde, wenn er jetzt nicht … Und schon hob er ab wie ein Hubschrauber. Mit einer Rechtsdrehung flog er dem Geschoss entgegen und traf voll mit der Stirn. Ein Torpedo, wie ihn früher nur Uwe Seeler beherrschte.
Wie von Sinnen schrie Treuckelmann in sein Mikrofon. »Stööööössssskennn fliegt. Er erwischt den Ball. Herrrrrrrrlich! Was für eine Flugkurve. Der Ball, der Ball, der Ball ist im Netz!!!! Ich bin balla, balla! 3:2 für Deutschland! Ist das der Titel? Ist das der Titel? Ist das der Titel? Oh, Verzeihung, wenn ich jetzt alles wiederhole, aber das ist unglaublich! Deutschland führt mit 3:2 nach diesem Traumtor von Erik Stössken.«
»Danke, Chef«, murmelte Pfarrer Kelter auf der Tribüne. Diesmal wohl etwas lauter, denn Herr Dahl schaute den Gottesmann erstaunt an. »Aber Sie müssen doch nicht Chef zu mir sagen.« Kelter schüttelte nur den Kopf.
Alle, wirklich alle deutschen Zuschauer lagen sich in den Armen, zumal wenige Minuten später das Endspiel abgepfiffen wurde. Deutschland war Europameister!
Auf
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