Lockende Versuchung
er einen weiteren Schluck zu sich und stöhnte danach genussvoll.
So ging es nun schon, seit die Kutsche sich in Bewegung gesetzt hatte: Jerome brachte Julianna mit seinen spöttischen Höflichkeitsfloskeln nicht weniger auf als Francis mit seinen gut gelaunten, aber nichtsdestoweniger lästigen Unterhaltungsversuchen. Diese Situation zerrte schrecklich an ihren Nerven.
Die unnatürlich Ruhe, die während der Hochzeitszeremonie über sie gekommen war, verflüchtigte sich immer rascher, und hinter der Maske der Gefasstheit kam ein verängstigtes Kind zum Vorschein. Ratlos starrte sie auf den breiten Goldreif, der ihren Finger wie eine Fessel umschlang. Konnte sie wirklich die Frau dieses kalten, schweigsamen Mannes sein? Und wie sollte sie den heutigen Tag und die Nacht überstehen, gar nicht zu reden von den darauffolgenden Tagen und Monaten und Jahren?
Der Kurat kletterte in Sir Edmunds Kutsche. „Ich bitte um Verzeihung für die Verzögerung“, sagte er atemlos. „Aber während ich noch dabei war, den Ornat abzulegen, hielt mich der Gemeindevorsteher mit einer dringlichen Angelegenheit auf.“
„Wie bitte?“ Widerstrebend wandte Edmund den Blick vom Fenster ab, denn er hatte die Überraschung noch nicht verwunden, die Juliannas rasche Entscheidung, die Kutsche ihres Bruders zu nehmen, bei ihm hervorgerufen hatte. War es nur das Bestreben gewesen, schnell dem Platzregen zu entkommen? fragte er sich zum wiederholten Male. Oder sollte sie die Gesellschaft dieses widerlichen Flegels Skeldon absichtlich der seinen vorgezogen haben?
„Der Gemeindevorsteher“, wiederholte der Kurat mit lauterer Stimme. „Er lässt Euch ausrichten, dass er ungemein bedauert habe, bei Eurer Trauung nicht anwesend sein zu können. Wenn Ihr nicht in so großer Eile wegen der Eheschließung gewesen wäret, hätte er es ganz bestimmt ermöglicht …“ Er brachte ein riesiges Taschentuch zum Vorschein und trocknete sich vorsichtig das Gesicht ab. „Ein Wetter ist das“, murmelte er. „Aber Regen am Hochzeitstag bedeutet Glück für die junge Ehe, soviel ich weiß.“
Edmund erwiderte achselzuckend: „In Surrey heißt es: glücklich die Braut, die die Sonne bescheint.“
Der Geistliche kicherte leise. „Weil wir gerade von der Braut sprechen – wo ist denn die reizende junge Frau?“
Ist sie tatsächlich reizend, überlegte Edmund, während er beiläufig das Fehlen seiner Gemahlin mit ihrer Hast erklärte, sich in dem erstbesten Wagen vor dem Regenguss in Sicherheit zu bringen. Nein, nicht im landläufigen Sinne, entschied er sich schließlich. Ihre Augen zum Beispiel hatten eine merkwürdige Farbe: das blasse Bernsteinbraun von frisch gebrühtem Tee. Um wirklich schön zu sein, war der Mund auch zu groß. Aber vielleicht vermittelten ja auch die Verletzungen in ihrem Gesicht einen falschen Eindruck.
Nun, wie auch immer, auf jeden Fall berührte ihn Juliannas einnehmende Art, und deshalb scheute sein doch so leidenschaftsloses und standhaftes Herz vor dem Ausdruck von Widerwillen zurück, den er in den Augen seiner Braut zu erkennen geglaubt hatte.
Die beiden Kutschen passierten eine von schmiedeeisernen Gittern unterbrochene Steinmauer und hielten dann vor dem Eingangstor von Fitzhugh House an, einem geräumigen, vielfenstrigen Gebäude aus tiefrot gebrannten Ziegeln. Der Regenschauer hatte sich in der Zwischenzeit zu einem leichten Plätschern abgeschwächt, und als Julianna Jeromes Kutsche verlassen hatte, bot Edmund ihr höflich den Arm.
Vor der schweren geschnitzten Eichentür wartete ein Bediensteter in einer makellosen Livree. Sir Edmund nickte ihm zu und wandte sich dann an seine Gemahlin. „Lass uns damit beginnen, dass ich dir meinen Haushofmeister vorstelle, Mr Mordecai Brock.“
Der Mann verneigte sich wortlos. Er trug einen außerordentlich beeindruckenden Backenbart und hatte die düstersten Augenbrauen, die Julianna je zu Gesicht gekommen waren. Zweistechende blaue Augen betrachteten die neue Hausherrin voller Missfallen.
„Ich bin erfreut, Euch kennenzulernen, Mr Brock“, sagte Julianna, obwohl sie weit davon entfernt war, irgendwelche Freude darüber zu empfinden.
Der Haushofmeister öffnete schweigend die Tür und geleitete die Hochzeitsgesellschaft in eine große, mit Marmorplatten ausgelegte Eingangshalle. Eine elegant geschwungene Holztreppe führte von dort aus in das erste Stockwerk empor.
In der Halle selbst war eine wahrhafte Armee von Dienstboten aufmarschiert: Lakaien, Kutscher und
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