Lockende Versuchung
Julianna an den Türrahmen und wagte weder zu sprechen noch sich zu bewegen aus Angst, dieser wundervolle Traum könne ganz plötzlich wieder verfliegen.
Doch obwohl sie ihren Augen immer noch nicht so recht traute, überzeugte sie ihre Nase alsbald, dass alles seine Richtigkeit hatte. In dem Zimmer lag ein wohlbekannter Geruch, gemischt aus dem Duft von Vaters Tabak, seinem Perückenpuder und ihrem eigenen Rosenwasser, alles miteinander gleichsam unterlegt von der etwas muffigen Ausdünstung alter Bücher. Kein noch so teures Parfüm und kein Gewürz aus dem fernen Indien dünkte ihr so süß wie dieser heimatliche Duft. Langsam wich der Druck von ihrer Brust, und warme Tränen quollen unter ihren Lidern hervor. Seit dem Todestag des Vaters hatte sie nicht mehr weinen können, auch nicht in den letzten schrecklichen Tagen. Nun aber war sie von diesem unerwarteten Glücksgefühl überwältigt worden.
Rasch eilte sie in das Schlafzimmer und fand dort ihr Bett vor, noch mit dem gewohnten Leinenzeug und den alten Vorhängen. Auf dem Kopfkissen lag ihre Schoßharfe, und von der gegenüberliegenden Wand sah das Bild ihrer Mutter auf Julianna herab. Mit einem unterdrückten Freudenschrei presste sie das so sehr entbehrte Instrument an ihr Herz, während die hellen Tränen über ihre Wangen liefen und ihr ganzer Körper von heftigem Schluchzen erschüttert wurde.
„Findet Ihr wirklich, dass alles in Ordnung ist, Mylady?“, erkundigte sich Gwenyth beunruhigt. „Wie ich schon sagte, wir hatten wenig Zeit zum Einräumen, da die Sachen erst gestern Abend gebracht wurden. Fühlt Ihr Euch wohl, Ma’am? Soll ich Euch vielleicht eine Tasse Tee bringen …oder etwas Stärkeres?“
Bei dieser Frage mischte sich ein leises Lachen in Juliannas Freudentränen. Sie ergriff Gwenyth bei den Händen und tanzte mit ihr durch das Zimmer. Es schien ihr fast, als sei ihre liebe Winnie, die alte Amme, als junges Mädchen wieder auferstanden.
„Oh, Gwenyth, ich könnte mich gar nicht wohler fühlen. Es ist alles wundervoll. Richte der Dienerschaft meinen herzlichsten Dank aus.“ Mit dem Handrücken wischte Julianna die Tränen ab und versuchte, sich wieder zu beruhigen. „Eine Tasse Tee wäre mir sehr willkommen. Und ich hätte auch gern eine Schüssel mit warmem Wasser, um mich zu waschen.“
„Ich könnte Euch auch ein Bad herrichten, Mylady. Im Ankleidezimmer ist alles Nötige vorhanden. Es hat seine eigene Feuerstelle und auch einen großen Badezuber“, erklärte Gwenyth eifrig und fügte dann in entschuldigendem Tone hinzu: „Der Herr hat nämlich seine eigenen Vorstellungen von Sauberkeit, Ma’am. Mehr als einmal habe ich ihn sagen hören: Der wildeste Eingeborene von Borneo riecht besser als gemeinhin eine Londoner Hausfrau.“
Es fiel Julianna nicht schwer sich vorzustellen, wie Sir Edmund ungerührt eine derartige Meinung zum Ausdruck brachte. Viele Menschen würden wahrscheinlich über eine solche Empfindlichkeit die Nase rümpfen. Sie selbst jedoch konnte ihm in diesem Falle nur aus vollem Herzen zustimmen.
„Wahrscheinlich ist das auch der Grund“, fuhr Gwenyth in einem nahezu verschwörerischen Flüstertone fort, „dass er keine Perücke trägt. Er nennt sie ein Läusenest!“ Über diese unerhörte, aber nichtsdestoweniger zutreffende Bezeichnung schütteten sich die beiden Mädchen vor Lachen aus.
„Ich werde gleich Feuer im Kamin machen, Mylady, und dann hole ich Euch Tee. Wenn Ihr ihn ausgetrunken habt, ist das Wasser heiß.“
Als Gwenyth gegangen war, setzte Julianna die Erkundung ihres neuen Heims fort. Das kleine Ankleidezimmer mit der flachen Kupferwanne gefiel ihr außerordentlich. Es enthielt die zwei alten Kirschbaumschränke aus ihrem Vaterhaus und einen nagelneuen Toilettentisch mit einem großen Spiegel und zwei Bürsten mit versilberten Rücken.
Wie konnte das nur geschehen, fragte sie sich immer wieder. Wie war es möglich gewesen, all diese Dinge wieder aufzukaufen und so überlegt und sorgfältig in ihren Räumen aufzustellen, dass es aussah, als warteten sie auf ihren Einzug? Es gehörte sehr viel Freundlichkeit und Verständnis dazu, die Mühe der Suche nach den verloren geglaubten Gegenständen auf sich zu nehmen und auf diese Weise die neue Herrin willkommen zu heißen. Nie und nimmer hätte sie Sir Edmund Fitzhugh mit seiner strengen Miene so viel Einfühlungsvermögen zugetraut. Ob sie ihn wohl falsch beurteilte? Schließlich hatte sie noch keine hundert Worte mit ihm
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