Lockende Zaertlichkeit
aus ihrem inneren Gleichgewicht zu bringen. "Ach Unsinn, ich bin nur müde", beteuerte sie erneut und folgte Natalie zum Wagen, wo Rick bereits wartete.
Auch er runzelte die Stirn, als er Olivias blasses Gesicht sah.
"Geht es dir nicht gut, Olivia?" fragte er besorgt.
"Sie ist nur müde", antwortete Natalie für sie.
"Aber du hast doch die ganze Zeit nur auf der Liege gelegen", wandte Rick ein. "Und dich kurz mit Sally unterhalten, habe ich gesehen."
"War ... war sie seit deinem Unfall schon mal bei euch?"
erkundigte Olivia sich vorsichtig.
"Nur ein Mal. Aber da hattest du gerade deinen freien Tag."
"Ach ja, das war einer dieser seltenen Glückstage", neckte Olivia ihn, um von ihrer inneren Unruhe abzulenken.
"Du bist ganz schön frech, weißt du das?" gab Rick scherzhaft zurück.
"Aber sie hat sich geradezu aufopfernd um dich gekümmert, das musst du zugeben", mischte Natalie sich fröhlich ein.
"Tatsächlich?" erwiderte Rick gespielt überrascht. "Aber es hat ihr bestimmt einen Riesenspaß gemacht, stimmt's, Olivia?"
Da musste Olivia lachen. "Stimmt", gab sie ehrlich zu. "Ich habe mich wirklich gern um dich gekümmert, Rick."
"Oh, sag ihm so was nicht", stöhnte Natalie. "Da wird er ja noch eingebildeter, als er ohnehin schon ist."
"Ich dachte, du liebst mich?" erwiderte Rick gespielt empört.
"Das tue ich auch - manchmal jedenfalls."
"Oh, vielen Dank!"
Alle lachten vergnügt, und Olivia wurde erneut bewusst, wie sehr sie diese Familie vermissen würde. Ricks Eltern, Clara und Eric, hatten Olivia herzlich in die Familie aufgenommen und von Anfang an darauf bestanden, dass Olivia die Mahlzeiten gemeinsam mit ihnen einnahm. Nur noch fünf Tage, und dann würde Olivia ihren nächsten Job bei der allein stehenden alten Dame antreten müssen. Aber das machte Olivia nichts aus. Sie liebte ihren Beruf und war es gewöhnt, sich immer wieder auf neue Menschen einzustellen. Nur manchmal fühlte sie sich etwas einsam, doch daran war sie selbst schuld. Obwohl es Olivia in den letzten sechs Jahren an Verehrern nie gemangelt hatte, hatte sie sich nie mit einem Mann auf eine feste Beziehung eingelassen. Keiner von ihnen hatte Marcus je das Wasser reichen können.
Marcus ... seit Olivia Sally getroffen hatte, musste sie ununterbrochen an ihn denken. Und zu allem Überfluss musste Rick während des Essens auch noch das Gespräch auf ihn bringen.
"Stellt euch vor, Sally ist aus der Schweiz
zurückgekommen", verkündete er heiter.
"Ihr Vater auch?" erkundigte sich Eric.
"Ich glaube schon. Ihre Großmutter ist auf jeden Fall da."
Sybil Carr - Marcus' Schwiegermutter. Sie hatte Olivia von Anfang an abgelehnt und ihr deutlich zu verstehen gegeben, dass sie in Marcus' Haus unerwünscht sei. Mr. Carr, ein reicher Geschäftsmann, war während der kurzen Zeit, in der Olivia mit Marcus befreundet gewesen war, geschäftlich in Amerika gewesen.
"Ist sie nur zu Besuch, oder bleibt sie länger hier?" wollte Clara wissen.
Rick zuckte die Schultern. "Ich glaube, sie bleibt länger hier."
"Das wird Marcus bestimmt nicht recht sein", fuhr Clara fort.
"Andererseits, warum sollte Sybil in der Schweiz bleiben, nun, da ihr Mann nicht mehr lebt?"
Also war Sybil Carr inzwischen Witwe geworden. Allerdings konnte Olivia sich kaum vorstellen, dass diese hochkultivierte und elegante Dame um irgendjemanden trauerte. Trauer offen zu zeigen passte nicht in die Rolle, die diese Frau verkörperte.
"Sally war auch auf der Gartenparty bei den Graystons", erzählte Natalie. "Olivia hat sich mit ihr unterhalten."
"Tatsächlich?" Clara lächelte sanft. "Sie ist ein sehr nettes Mädchen geworden, findest du nicht auch, Olivia?"
"Ja, sicher", antwortete sie unbehaglich und stand auf. "Ich ...
ich muss jetzt leider auf mein Zimmer gehen", entschuldigte sie sich höflich. "Weil ich noch einige Unterlagen durcharbeiten muss, bevor ich meine nächste Stelle antrete."
Clara lächelte verständnisvoll. "Natürlich, geh nur, Olivia."
Olivia war froh, sich in ihr Zimmer zurückziehen zu können.
Das Treffen mit Sally hatte sie völlig aufgewühlt. Nur zu gut erinnerte Olivia sich an das kurze, aber intensive Verhältnis, das sie vor sechs Jahren mit Marcus gehabt hatte. Und an den Schmerz und die Enttäuschung, die sie seinetwegen hatte erleiden müssen.
Als Achtzehnjährige hatte Olivia den Beruf der
Krankenschwester gewählt, weil sie ihn sich sehr romantisch vorgestellt hatte. Doch bereits nach sechs Monaten Ausbildung und Arbeit auf
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