Wenn du mir vertraust: Roman (German Edition)
Prolog
D er Tag des Weltuntergangs begann mit einem kristallklaren Morgen und einem Himmel, der sich so wolkenlos und strahlend blau über der Landschaft wölbte, dass man das Gefühl hatte, er könne jeden Augenblick zerspringen. Obwohl es Ende Februar noch eiskalt draußen war, fuhren Mickey und Jenna mit ihren Fahrrädern die windgepeitschte schmale Straße in Richtung Strandwall entlang. Das machten sie häufig im Frühjahr, Sommer und Herbst, aber die heutige Radtour war die erste, seit die Schneefälle des Winters nachgelassen hatten.
Jennas Lieblingsvogel war der Blauflügelwaldsänger, den man um diese Jahreszeit jedoch noch nicht zu Gesicht bekam. Mickeys Lieblingsvogel – weder Jenna noch sie hatten ihn bisher mit eigenen Augen gesehen – war die Schneeeule. Diesen Vogel umgab etwas Geheimnisvolles, er war schwer fassbar und erschien ihnen daher besonders reizvoll. Die Gruppe der Hobbyornithologen, die sich auf die Beobachtung seltener Vögel spezialisiert hatte, hatte alle per E-Mail informiert, dass ein Exemplar dieser seltenen Vogelart am Refuge Beach entdeckt worden war. Solche E-Mails trafen jeden Tag ein, aber es war die erste Sichtung bei Schnee, soweit sich Mickey erinnern konnte.
»Es ist eisig«, stöhnte Jenna, während sie südwärts fuhren und dabei kräftig in die Pedale traten.
»Ich weiß. Aber stell dir nur vor – wir bekommen eine Schneeeule zu sehen!«
»In der E-Mail war nicht einmal genau beschrieben, wo sie gesichtet wurde!«
»Natürlich, die Vogelbeobachter wollen die Eulen schließlich schützen. Sie sind so scheu und schreckhaft. Aber keine Sorge. Der Absender hat die Stelle verraten, als er die Preiselbeersträucher und Stechpalmen erwähnte.«
»Hier wachsen überall Preiselbeeren!«
»Ich weiß. Aber mit Sicherheit gibt es dort nur einen Strauch, der von Stechpalmen überwuchert ist. Jetzt komm schon, wir sind bald da, nur noch eine halbe Meile.« Sie fuhren am Informationszentrum vorbei, in dem der Ranger des Refuge Beach Park wohnte und arbeitete. Mickey hatte dort spätabends noch Licht brennen gesehen, wenn sie mit ihrer Mutter an lauen Sommerabenden in das Naturschutzgebiet kam, um unter dem Sternenhimmel zu picknicken. Als Mickey seinen grünen Truck erspähte, fragte sie sich, womit er sich an einem solchen Tag, an dem wegen der Kälte kaum Besucher im Park unterwegs waren, wohl beschäftigte.
»Ich kann es kaum erwarten, bis wir endlich unseren Führerschein haben«, meinte Jenna. »Noch ein Jahr. Findest du es nicht hoffnungslos kindisch, mit dem Fahrrad zum Refuge Beach zu fahren, um uns einen albernen Vogel anzuschauen?«
»Im letzten Sommer hast du es nicht kindisch gefunden«, murmelte Mickey, aber Jenna hörte sie nicht; der Wind verwehte ihre Stimme, über die Dünen und aufs Meer hinaus. Ihr Gesicht brannte vor Kälte und sie hatte das Gefühl, als wären ihre behandschuhten Hände an der Lenkstange festgefroren. Jenna hatte keine Ahnung, wie sehr sie diese Ablenkung gerade heute brauchte. Ihre Brust brannte – vor Anstrengung, aber auch, weil ihr Herz so schwer war. Ihre Eltern waren heute Morgen wieder einmal bei Gericht.
»Wir sind inzwischen zu alt, um Vögel zu beobachten, auch wenn es schön wäre, eine Schneeeule zu sehen, sozusagen als krönender Abschluss«, erklärte Jenna mit einem warnenden Unterton. »Das ist ein netter Zeitvertreib für Kinder, Mick. Aber ehrlich gesagt, er bedeutet mir nicht mehr so viel wie früher.«
Mickey nickte. Sie antwortete nicht. Wusste Jenna überhaupt, was sie da sagte? Wollte sie sich wirklich in die Schar der geistlosen Halbwüchsigen in ihrer Klasse einreihen, die wie geklont wirkten und plötzlich nur noch Make-up und iPods, klobige Stiefel und coole Kuriertaschen für ihre Bücher im Kopf hatten? Umherwirbelnde Sandkörner peitschten ihre Wangen, als sie härter in die Pedale trat.
Kurz bevor sie das Dickicht aus Sträuchern erreichten, bemerkte Mickey ein Baufahrzeug, das auf dem Sandweg parkte. Auf der Ladefläche stand ein kleiner Bulldozer, der mit einer dicken Kette befestigt war. Als sie überlegte, was es damit auf sich haben mochte und sich umdrehte, um ihn genauer in Augenschein zu nehmen, rutschte sie aus und wäre um ein Haar gestürzt. Aber es gelang ihr, das Fahrrad wieder aufzurichten; sie gab das Handzeichen und bog von der gepflasterten Straße auf den kleinen sandigen Parkplatz ab.
Sie lehnten ihre Fahrräder an ein geborstenes Geländer und liefen den gewundenen Pfad hinab,
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