Lockruf Der Nacht
auf der Suche nach meinem kleinen Jungen. Er ist spurlos verschwunden. Die Angst um ihn treibt mich in den ersten Bunker.
Als ich durch den Eingang trete und unter der halb zerstörten Glaskuppel stehe, wirkt das Gebäude noch gigantischer als es von außen schien. Die Kuppel liegt hundert Meter über mir und links und rechts gibt es unendlich viele Stockwerke. Alles sieht wie nach einem Bombeneinschlag aus. In den Mauern klaffen Löcher, herausgebrochene Steine und Schutt liegt herum und der Boden unter mir hat tiefe Risse. Eines wird mir plötzlich klar. Es ist Krieg und in diesem Gebäude lebt niemand mehr. Wahrscheinlich in den anderen auch nicht.
Ich fühle mich wie eine Ameise unter einem riesigen Schuh.
Neben einer Treppe, die einzige Möglichkeit, um nach oben zu gelangen, führt ein Abgrund ins Nichts. Ich werfe einen kleinen Stein hinein und warte auf den Aufprall oder ein Plätschern. Nichts zu hören. Hier geht es in die Unendlichkeit.
Stufe für Stufe laufe ich nach oben, öffne unverschlossene Türen und werfe einen Blick in leere, verlassene Lofts. Keine Menschen, keine Möbel, nicht mal ein Insekt ist zu sehen, das herumkrabbelt.
Nach der zwanzigsten Tür, etwa im dritten Stock, finde ich ein zurückgelassenes Möbelstück. Es ist das Sofa meiner Mom. Das mit dem türkisrosa gestreiften Seidenbezug. Es steht mitten im Raum. Allein und verlassen.
Der Krieg scheint an mir vorbeigezogen zu sein. Ich habe nichts mitbekommen, schlimmer noch, ich weiß nicht einmal, wer der Feind ist. Keine einzige Menschenseele ist mehr da. Das macht mir Angst. Ich möchte nicht allein auf dieser Erde zurückbleiben.
Ich laufe wieder raus, dabei zieht eine farbliche Veränderung der Fassade meine Aufmerksamkeit auf sich. Ganz oben auf der anderen Seite ist ein Spielzeugladen. Er scheint das einzig Intakte in diesem Gebäude zu sein. Im Fenster hängen bunte Kostüme und eine große Clownsfigur mit einer roten Latzhose. Ich mag keine Clowns. Sie malen sich ein Lächeln auf ihre traurigen Gesichter, wollen andere zum Lachen bringen und weinen in ihrem Inneren.
Bei dem Anblick des Ladens kommt mir sofort ein schrecklicher Gedanke. Er lockt Kinder mit seinen vielen bunten Spielsachen an. Vielleicht ist mein Junge da. Die Frage ist nur, wie komme ich da oben hin? Es gibt keine Treppe, keinen Fahrstuhl.
Ich laufe ans andere Ende des Ganges, als ein großer Schatten an der Wand erscheint. Er wird immer kleiner, bis daraus eine menschliche Gestalt wird, die langsam auf mich zukommt. Es geht nichts Bedrohliches von ihr aus, deshalb bleibe ich stehen und warte ab. Ich bin weder weitsichtig noch kurzsichtig, sprich ich habe keine Probleme mit den Augen, aber diese Figur ist verschwommen, sie flimmert wie Luft über einer Wärmequelle. Doch je näher sie kommt, desto deutlicher wird ihr Umriss, bis sie schließlich in aller Deutlichkeit vor mir steht.
Zwei stechend blaue Augen, umrandet von schwarzen Wimpern, sehen mich an. Ich kenne den Mann nicht und doch wirkt er eigenartig vertraut, und als er meinen Namen sagt, klingt er aus seinem Mund wie eine Melodie. »Leia.«
Ein leises Plätschern dringt an mein Ohr. Erst denke ich, es ist der Regen, der an meinen Fensterscheiben herunterläuft. Doch irgendetwas sagt mir, dass Regen anders klingt. Ich kenne das Geräusch.
Verdammter Mist. Ich tauche auf, verlasse meinen Traum, obwohl ich lieber bei diesem schönen Unbekannten geblieben wäre, der meinen Namen so schön ausgesprochen hat.
Nur mit Mühe bekomme ich meine Augen in der Dunkelheit auf. Die Bettseite neben mir ist leer, die Decke zurückgeschlagen. Schlaftrunken tapse ich in die Richtung, aus der das Geräusch kommt und sehe Joe, der in meinem begehbaren Kleiderschrank steht und pinkelt.
»So eine verdammte Sauerei«, schreie ich ihm entgegen und mache das Licht an.
»Was ist denn los?« Joe blinzelt und hält sich die Hand vor die Augen.
»Du pisst gerade in meine Schuhe.«
»Quatsch.« Nackt wankt er an mir vorbei und legt sich wieder ins Bett. Keine drei Sekunden später schläft er wieder den Schlaf der Gerechten.
Das reicht. Es war nicht das erste, aber ganz sicher das letzte Mal. Wutentbrannt gehe ich runter in die Küche, schnappe mir einen Eimer Wasser, Wischmopp und Lappen und versuche den Schaden in meinem Heiligtum zu begrenzen. Wenigstens hat er die nagelneuen Sneakers verfehlt.
Ich ärgere mich so sehr, dass ich für den Rest der Nacht kein Auge mehr zudrücke. Meine Gedanken kreisen um den
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