Lockruf Der Nacht
gleich darauf wieder aufzuschlagen. Neugierig sehe ich mir die ersten Seiten meiner Notizen an. Die Einträge liegen Monate zurück und die Schrift lässt sich nur schwer lesen. Ich muss das alles im Halbschlaf und im Liegen aufgeschrieben haben. Außerdem kann ich mich an nichts mehr erinnern und bin umso erstaunter, als ich von den eisblauen Augen lese. Kam mir die Gestalt deshalb gestern so vertraut vor?
Auf dem Weg zur Kaffeemaschine überlege ich, ob ich diesen Mann nicht doch schon irgendwo einmal gesehen habe. Nicht in meinem Traum, sondern in Wirklichkeit. Warum sonst sollte er immer wieder erscheinen?
Mit meinem Kaffee in der Hand google ich das Wort `Träume´ und entdecke einen Spruch: ` Höre niemals auf zu träumen, denn in einem Traum verbergen sich oft die wahren Werte des Lebens `. Die wahren Werte? Was war das in meinem Fall? Die Liebe? Man lernt im Laufe der Zeit ohne sie auszukommen. Ein Neugeborenes kann ohne Liebe und Zuneigung nicht überleben, wir schon. Um die Lücke im Herzen zu füllen suchen wir uns Ersatzbefriedigungen. Geld, einen hohen Lebensstandard, Luxuskarossen, schnellen Sex, Immobilien und schicke Klamotten. Ich sehe hoch zu meinem Kleiderschrank. Meine einzige und wahre Liebe. Ich schüttle den Kopf über meine eigenen dämlichen Gedanken. Wie schön es doch ist, so ignorant zu sein. Aber Ignoranz hilft manchmal ganz gut über die stillen, unerfüllten Sehnsüchte hinweg.
Wenn ich an die wahnsinnig schönen Augen des Unbekannten und an den Kuss denke, habe ich das Gefühl von fliegenden Schmetterlingen in meinem Bauch. Ein klein wenig idiotisch fühle ich mich schon dabei. Immerhin handelt es sich nur um ein Traumgespinst.
Vier Besichtigungen stehen heute auf dem Programm. Projekte von drei bis fünfundzwanzig Millionen US-Dollar.
Nach drei mehr oder minder frustrierenden Objektbegehungen, sinnlosem Begaffen fremden Eigentums und genervten Gesichtern von Klienten, deren Wünsche und Geschmack ich nicht getroffen habe, ist die letzte Besichtigung mit einer geschiedenen Frau, die mir ihr halbes Leben schon im Fahrstuhl erzählt. Sie ist um die vierzig, brünett und für meinen Geschmack sehr attraktiv.
Ich stehe wieder im vierzigsten Stock vor dem Apartment mit dem Blick auf den Central Park, das Ms. ´Not happy` für sich als nicht würdig befunden hatte. Beim Aufschließen beobachte ich die Augen der Klientin. Sie ist angetan. So angetan, dass ihr Redefluss nicht zu stoppen ist. »Ich bin ja so froh, dass ich geschieden bin. Was kann es Besseres geben, als Geld zu haben und frei zu sein?« Sie sieht mich an und erwartet scheinbar dazu eine Stellungnahme von mir.
Ich dachte, es wäre eine rhetorische Frage gewesen. Da sie aber wohl auf eine Antwort wartet und ich nicht dumm erscheinen möchte, sage ich: »Glücklich und gesund?«
Sie sieht mich an, als hätte ich sie geohrfeigt. Anscheinend habe ich zwar etwas Weises, aber auch Blödes gesagt.
»Ich sehe schon«, sagt sie konsterniert. »Um diese Frage zu verstehen, muss man erstens lange mit einem Arschloch verheiratet gewesen sein und zweitens wissen, was Abhängigkeit bedeutet.«
»Damit kann ich nicht dienen«, sage ich lachend. Ich versuche ihr ein paar Vorteile des Apartments zu erzählen, aber sie winkt mit ihrer behandschuhten Hand ab und sagt: »Ich nehme es.«
»Sie nehmen es?«, frage ich vorsichtig nach und sehe mich um, was sie noch außer dem Apartment meinen könnte.
»Ich kaufe es. Es gefällt mir.«
Das war der schnellste Verkauf aller Zeiten. Rechnet man die zwanzig Minuten Geplapper ab, habe ich in ganzen zwei Minuten mit gerade mal drei Sätzen das Apartment an die Frau gebracht. Ich rufe im Büro an und kläre mit der Sekretärin vorab die Formalitäten, weil mein Chef gerade in einer Besprechung ist und bin heilfroh, dass ich mir gleich nichts mehr über Ehe, Geliebte und Einsamkeit anhören muss.
Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben. Ein Spruch, der sich immer wieder bewahrheitet.
Mara Sheldon, so der Name der entschlussfreudigen Klientin, möchte mich zum Essen einladen. Und sie akzeptiert keine Ausrede. »Sagen Sie alle restlichen Termine für heute ab.«
Ich will gerade Einwand erheben, als sie den Finger hebt. »Keine Widerrede, junges Fräulein.«
Ich gebe auf, ändere meine Termine und sitze keine halbe Stunde später mit Ms. Sheldon in einem italienischen Restaurant. Kaum haben wir Platz genommen, wird sie ein wenig melancholisch. Ich habe das Gefühl, dass sie zwar
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