Lockruf Der Nacht
wieder zurück nach Kalifornien gehen können oder nach Hawaii oder Florida, die eher in meinen Klimazonen liegen, stattdessen bin ich hier geblieben.
Wir stehen kurz vor Sommeranfang und es ist arschkalt. Mein Wagen steht seit zwei Wochen in der Werkstatt. Gegen jede Vernunft habe ich ein Auto. Die meisten New Yorker sind zu Fuß, mit der Subway oder mit dem Taxi unterwegs, da die Parkplatzsuche ziemlich kostspielig oder frustrierend sein kann. Aber ich sitze gerne in meinem Auto, höre meine Musik und hänge morgens ungestört meinen Gedanken nach, ohne eine andere Energie neben mir zu haben. Dafür nehme ich so einiges in Kauf. Hinzukommt, dass mein Loft in Brooklyn in keiner besonders hübschen und sicheren Gegend liegt und ich gerne direkt vor der Haustür aussteige. Laut Statistik hatten wir hier letztes Jahr fünfhundertundfünfzehn Morde, eintausendvierhundertundsiebzehn Vergewaltigungen und fast zwanzigtausend Raubüberfälle. Aus den eintausendvierhundertundsiebzehn Vergewaltigungen hätte ich letztes Jahr beinahe eintausendvierhundertundachtzehn gemacht. Ich war spät nachts von einer Vernissage gekommen und als ich dabei war, meinen Schlüssel aus meiner Tasche zu kramen, in der ich generell nie etwas auf die Schnelle finde, kamen drei Typen um die Ecke. Ich habe die Szene nur noch bruchstückhaft in Erinnerung, weiß nur noch, dass mir die Tasche aus der Hand gerissen wurde und wie aus dem Nichts plötzlich ein Typ mit Mütze dastand. Er machte meine Angreifer unschädlich und warf mir meinen Schlüssel zu. Wie er den so schnell gefunden hatte, ist mir bis heute ein Rätsel. Am nächsten Tag fand ich meine Tasche oben auf dem Müllcontainer liegen. Alles war noch drin.
Auf jeden Fall ist das dreistöckige alte Warenhaus, in dem mein Loft ist, ein wahres Schmuckstück. Oben hat es noch die typische Art Deco Silhouette aus den 30er Jahren, die New York diesen speziellen Charme gibt. Etwa zwanzig Parteien leben mit mir unter einem Dach. Die meisten davon sind arme Künstler.
Ich liebe mein Loft. Es liegt im obersten Stock, ist sehr großzügig mit alten Deckenpfeilern, Betonboden und naturbelassenen Ziegelsteinwänden verziert. Und so hoch, dass ich über die Hälfte der Fläche eine zweite Ebene einziehen lassen konnte, in der mein Schlafzimmer und mein heiß geliebter Kleiderschrank liegen. Das Beste an allem aber ist der Blick von meinem Bett durch ein ebenfalls nachträglich eingebautes Dachfenster direkt in den Himmel. Außerdem hat es noch eine kleine Terrasse, auf der ein paar Pflanzen, zwei Stühle und ein kleiner Tisch Platz haben. Ein hübsches bescheidenes Plätzchen, wo ich im Sommer gerne sitze und Kaffee trinke.
Den Arm nach oben gerissen wie die Freiheitsstatue, halte ich ein Taxi an und gebe dem Fahrer die erste anzulaufende Adresse in Upper East.
Während der Fahrt suche ich den Namen meines Klienten in einem Wust von losen Papieren. Ich habe ein furchtbares Namensgedächtnis. Das hat mich schon auf Events in verflixt peinliche Situationen gebracht.
Mein erster Kunde heißt Mr. D. Clayton aus Kalifornien. Entrepreneur. Wie alt er wohl ist? Verheiratet, geschieden, ewiger Junggeselle? Im Stillen hoffe ich, dass eines Tages bei einer Besichtigung mein Traummann vor mir steht.
Apropos Traummann. Ich versinke in Gedanken. Der Kuss in meinem Traum fühlte sich so echt an. Allerdings zarter und behutsamer als die, die ich in den letzten Jahren erleben durfte, wenn einem hastig die Klamotten vom Leib gerissen werden und die Zungen sich in einem wilden Ringkampf umeinander schlingen. Ich denke an den Mann in meinem Traum und stelle mir vor, dass Mr. D. Clayton diesem Bild sehr nahe kommt. Wenn ich gleich das Gebäude betrete und unsere Blicke sich treffen, wird er von mir verzaubert sein.
Das Taxi hält schließlich vor dem Apartmentgebäude in einer der prestigeträchtigsten Gegenden New Yorks. In der Lobby erwartet mich bereits der potenzielle Käufer, D. Clayton, ein elegant gekleideter Mann in den Vierzigern, der nicht die entfernteste Ähnlichkeit mit dem Mann in meinem Traum hat. Die Liebe auf den ersten Blick ist ein rein visuelles Ereignis und findet hier definitiv nicht statt. Die Traumblase zerplatzt und ich stehe mit beiden Füßen wieder in der Realität.
»Leia Walsh«, stelle ich mich vor und strecke ihm meine eiskalte Hand entgegen.
»Daniel Clayton.«
Das D. stand also für Daniel. Netter Name, aber ich kenne nur Idioten mit diesem Namen.
Wir fahren
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