Lockruf Der Nacht
eigenartigen Traum und seine mögliche Bedeutung. Vor etwa einem Jahr habe ich mir ein Traumbuch gekauft. Es ist schwarz und verziert mit metallfarbenen geschwungen Blüten und Blättern. Es liegt neben meinem Bett, bedeckt von einer dünnen Staubschicht. Ich war wirklich fest entschlossen, jeden Traum hineinzuschreiben, aber wie es dann immer ist, hält die Euphorie nicht lange an und so habe ich gerade mal sieben kleine Einträge. Ich schreibe also auf die nächste Blankoseite das Datum von heute und die Uhrzeit.
Diese Gebäude sahen aus wie aus einer anderen Welt. Ich war allein. Kein Kunststück das zu deuten. Ich bin allein. Auch wenn ich mich ab und zu auf kleine Liebschaften einlasse, fühle ich mich allein. Das ist unsere Gesellschaft. Jeder für sich. Ich war auf der Suche nach meinem Kind. Dabei habe ich gar kein Kind und ich möchte auch keins haben. Mit einem stillen Mutterwunsch kann es also nicht zusammenhängen. Und nun komme ich zu dem interessanten Teil. Dieser Mann. Er sah nicht nur verdammt gut aus, er hatte diese gewisse Ausstrahlung. Das, was ich als männlich empfinde: Ruhig, gelassen und überlegen. Das Gegenteil von dem, was neben mir liegt. Joe. Cholerisch, nervös und wankelmütig. Einer der vielen Menschen mit Borderlinestörungen und anderen Syndromen, die noch erfunden werden müssen, damit es immer einen Grund gibt, um zu Alkohol und Drogen zu greifen.
Wie gerne würde ich zurück in meinen Traum zu den blauen Augen springen. Eine Stunde könnte ich noch schlafen. Zu kurz. Die Digitalanzeige des Weckers springt auf sechs Uhr null und eins um.
Während ich über das Für und Wider eines Einschlafens nachdenke, überfällt mich eine bleierne Müdigkeit, meine Sinne schalten sich aus und ich fühle, wie das Blut sich nur noch schleppend durch die Straßen des Lebens pumpt. Let´s go back , denke ich noch und schließe die Augen. Manchmal gelingt es mir, an der gleichen Stelle in meinem Traum wieder einzusteigen und die Handlung zu lenken. Tatsächlich beginne ich den Traum dort, wo er aufgehört hat.
»Leia«, höre ich ihn wieder sagen. Seine ruhige sonore Stimme klingt angenehm und beruhigend. Warum sagt er nicht mehr, erzählt mir eine ganze Geschichte mit seiner Stimme? Stattdessen nimmt er mein Gesicht zwischen seine Hände und küsst mich. Ich leiste keinen Widerstand und gebe mich dieser berauschenden Zärtlichkeit hin.
2.
Der Wecker reißt mich gnadenlos in die muffige, dunkle Realität zurück. Es ist sieben Uhr. Eine Stunde später. Dabei hatte ich das Gefühl, gerade mal eine Sekunde geschlafen zu haben.
Joe murmelt etwas vor sich hin und dreht sich von mir weg zur anderen Seite. Bei seinem Anblick ist meine Laune, schon bevor der Tag beginnt, auf dem Tiefpunkt angelangt.
Morgens ist meine erste Tat, den Knopf der Kaffeemaschine zu betätigen, damit sich das Wasser erhitzen kann, während ich unter der Dusche stehe.
Männer sagen, ich sehe verschlafen besonders süß und sexy aus. Das liegt wahrscheinlich daran, dass ich nach dem Sex so aussehe und sie mich am liebsten nur in der Horizontalen hätten. Ich finde mich jedenfalls hübscher, wenn meine Augen offen, leicht geschminkt, meine Zähne geputzt und meine langen dunklen Haare, die mir bis zur Taille reichen, glatt gekämmt sind.
Ein Blick in meinen Planer sagt mir, dass ich heute drei Besichtigungstermine habe. Später Mittagessen mit meiner Freundin Lilith in Soho, danach ins Büro und am Nachmittag soll ich einen Kunden, der gerade ein Apartment für achtzehn Millionen Dollar gekauft hat, bei der Inneneinrichtung seiner Neuerwerbung beraten. Was tut man nicht alles. Aber ein guter Service verspricht Empfehlungen und weitere Kunden.
Als ich frisch geduscht meinen Kleiderschrank betrete, hängt immer noch der strenge Geruch von menschlichem, männlichem Urin in der Luft.
Ich schlüpfe schnell in einen schwarzen Hosenanzug, ein paar Stiefel und greife nach meiner Tasche. Ein letzter Blick auf die Schnapsleiche in meinem Bett, dann schreibe ich eine kurze Nachricht auf einen pinkfarbenen Abreißblock und lege sie auf Joes Jeans. ` Lass deinen Schlüssel hier ´, lautet sie. Weiterer Worte bedarf es meines Erachtens nicht.
Manchmal frage ich mich, warum ich hier in New York lebe. Die Frage lässt sich allerdings ziemlich einfach beantworten. Meine Mom ist, beziehungsweise war, schuld. Leider lebt sie nicht mehr. Ein Kapitel in meinem Leben, über das ich nicht gerne spreche. Trotzdem hätte ich längst
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