Lockruf der Vergangenheit
gekümmert, sonst hätten sie uns in den zwanzig Jahren geholfen.
Colin spürte wohl, was in mir vorging, denn er fragte in ruhigem, ernsthaftem Ton: »Und warum bist du dann jetzt zurückgekommen?« Ehe ich ihm antworten, ihm von meiner Einsamkeit, meiner Sehnsucht nach Familienzugehörigkeit erzählen konnte, öffnete sich die Tür.
»Leyla!« rief der Fremde, der mit großen Schritten hereinkam. »Leyla!« Er eilte auf mich zu und nahm meine Hände. »Auf den ersten Blick hätte ich dich erkannt! Du bist Tante Jenny wie aus dem Gesicht geschnitten. Willkommen zu Hause!«
Vetter Theodore war ein eleganter Mann. Zum burgunderfarbenen Rock mit Weste trug er ein weißes Hemd aus feinstem Leinen und dazu eine schwarze Hose. Sein Haar war so schwarz wie meines, und seine leicht vorstehenden Augen waren von einem Kranz dichter Wimpern umgeben. Die Nase war eine Spur zu groß, und am Kinn hatte er ein kleines Grübchen, genau wie ich. Daß dieser Mann ein Pemberton war, daran gab es keinen Zweifel.
»Ja, Theo«, fuhr Colin unhöflich dazwischen, »vorhin verwechselte unsere Cousine Leyla mich mit dir und bat mich um Schutz vor dem flegelhaften Vetter Colin.«
Ich errötete tief. »Ich sagte, daß es mir leid tut.«
Er zuckte wieder auf seine unerzogene Art die Achseln, dann stand er auf und ging ohne ein weiteres Wort aus der Bibliothek. Theodore sah ihm einen Moment lang nach, ehe er sich mir zuwandte. Er lächelte mich an, aber seine Augen blieben kühl. An diese Zwiespältigkeit würde ich mich hier offenbar gewöhnen müssen. Keiner hier konnte mir mit wirklicher Herzlichkeit entgegenkommen. Dennoch gab sich Theodore von den vier Menschen, denen ich bisher im Haus begegnet war, die meiste Mühe, sein Unbehagen zu verbergen. Er schüttelte mir kräftig beide Hände, sprach laut und dröhnend, als wolle er den ganzen Raum mit seiner Persönlichkeit füllen.
Und dennoch hatte ich auch an ihn keinerlei Erinnerung. »So ungern ich es tue, ich muß dich bitten, Colin zu entschuldigen. Er ist hier sozusagen der Außenseiter, er paßt nicht in die Familie, verstehst du. Er ist mehr der Sohn seiner Mutter als seines Vaters. Weiß der Himmel, wo er seine flegelhaften Manieren her hat. Aber setz dich doch wieder, Leyla. Darf ich dir einen Sherry einschenken?«
Ich setzte mich und sah ihm zu, wie er mit bedächtigen Bewegungen den Sherry aus der Karaffe in die Gläser goß. Sein Gebaren war, so ungezwungen er sich auch gab, dennoch verkrampft. Nachdem er mir mein Glas gereicht hatte, stellte er sich nonchalant neben den Kamin und betrachtete mich mit unverhohlener Neugier.
»Du mußt verzeihen, daß ich dich so anstarre«, sagte er, »aber jetzt, da ich dich vor mir sehe, werden plötzlich zahllose Erinnerungen wach. Ich habe dich immer Bunny gerufen. Weißt du noch? Und du hast mit den anderen unten im Wäldchen gespielt. Lieber Gott, wie vergeßlich man ist.«
Theodore war meiner Schätzung nach Ende dreißig; das hieß, daß er damals fast zwanzig gewesen sein mußte. Wahrscheinlich achtzehn oder neunzehn, als meine Mutter mit mir fortgegangen war. Ich konnte mir vorstellen, daß ich ihn als kleines Mädchen ungeheuer beeindruckend gefunden hatte. Doch erinnern konnte ich mich nicht. Sein Gesicht hatte viel Ähnlichkeit mit meinem, nur die leicht vorstehenden Augen hatte er von seiner Mutter Anna geerbt.
Ich lächelte ihn an. Der Sherry tat mir gut. Zum erstenmal fühlte ich mich in diesem Haus wirklich gelöst.
»Sag mal, ist das Unterhaus eigentlich inzwischen fertig?« fragte Theo. »O ja, bis auf den Glockenturm. Da wird noch gearbeitet. Die Glocke zersprang bei der Probe. Soviel ich weiß, hat der Turm auch schon einen Namen – Big Ben.«
Theo lachte. »Das klingt ja sehr gemütlich. Ich war vor sechs Jahren das letzte Mal in London und da habe ich mir geschworen, nie wieder dorthin zu reisen. Ich muß ab und zu nach Manchester – wir haben eine Baumwollspinnerei dort –, aber das ist so ziemlich alles, was ich an Reisen unternehme. Wir Pembertons sind seßhafte Leute.« Ich sah mich um und dachte: Warum sollte man auch fort wollen, wenn man so ein Zuhause hat?
»Du möchtest sicher gern Großmutter deine Aufwartung machen, aber da wirst du bis morgen warten müssen. Sie fühlt sich in letzter Zeit nicht recht wohl. Sie hatte eine schwere Erkältung mit starken Kopfschmerzen. Leidest du auch an Kopfschmerzen?«
»Überhaupt nicht. Warum?«
»Du wirst sie also morgen sehen, wenn sie sich besser fühlt.
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