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Lockruf der Vergangenheit

Lockruf der Vergangenheit

Titel: Lockruf der Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: wood
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die Forderungen der Arbeiter Rücksicht nehmen muß.«
    »Aber als vor elf Jahren das Gesetz über den Zehn-Stunden-Tag erlassen wurde – «
    Während Vater und Sohn sich unterhielten, beobachtete ich heimlich Colin. Ein- oder zweimal nahm er Anlauf, etwas zu sagen, und überlegte es sich dann anders. Und während Henry und Theo über die Geschäfte des Familienunternehmens sprachen, fragte ich mich, welchen Platz Colin in der Firma einnahm. Sein Gesicht war ausdruckslos, doch seine Gesten wirkten ein wenig verärgert.
    Mit der Zeit jedoch begann ich ungeduldig zu werden. Waren diese Erörterungen von Familienangelegenheiten in meinem Beisein ein Hinweis darauf, daß man bereit war, mich in die Familie aufzunehmen? Oder wollte man mit dieser Diskussion nichts weiter als meine Anwesenheit ignorieren?…
    Das Essen war ausgezeichnet gewesen, der Wein erlesen, die Umgebung angenehm. Nur die Gesellschaft hatte meinen Erwartungen nicht entsprochen. Aber was hatte ich denn erwartet? Schließlich war ich für diese Menschen zwanzig Jahre verschollen gewesen! Hatte ich wirklich geglaubt, man würde mich lachend und weinend in die Arme schließen?
    Aber plötzlich fiel mir wieder ein, was mich getrieben hatte, nach Pemberton Hurst zurückzukehren: Tante Sylvias Brief. Ich hätte vielleicht nie den Mut aufgebracht, hierher zu kommen, wäre es zufrieden gewesen, Edward zu heiraten und mein neues Leben zu beginnen, ohne meine Familie wiedergesehen zu haben, wenn nicht der Brief gewesen wäre. Als ich Tante Sylvias warme, besorgten Worte gelesen hatte, ihre Mitteilung, daß sie uns erst jetzt in London ausfindig gemacht und große Sehnsucht nach uns hätte, da hatte ich geglaubt, die ganze Familie wünsche unsere Rückkehr.
    Wie sehr hatte ich mich getäuscht, denn meinen Verwandten war dieses Schreiben unbekannt.
    Ich schaute zu dem Platz hin, an dem das unberührte Gedeck lag, und der Wunsch, meine Tante zu sehen, wurde übermächtig. »Bitte entschuldigt«, sagte ich laut, »aber darf ich jetzt hinaufgehen und Tante Sylvia besuchen?«
    Annas Kopf flog herum. Die anderen schwiegen, als hätte ich ihnen das Wort abgeschnitten, und an dem Ausdruck auf ihren Gesichtern sah ich, daß ich etwas absolut Unpassendes gesagt hatte.
    »Ach, Leyla«, sagte Martha schließlich, und in ihren Augen sah ich wieder dieses tiefe Mitleid. »Hat es dir denn keiner gesagt?«
    »Was denn?« fragte ich erschrocken. »Tante Sylvia ist tot. Sie ist vor vier Wochen gestorben.«

 
    3
     
     
     
    Ich weiß nicht, warum diese Nachricht mich so heftig erschütterte. Ich hatte meine Tante ja nie gekannt, ich hatte keinerlei Erinnerungen an sie, nichts, was mich mit ihr verband. Und doch war ich wie vor den Kopf geschlagen; alle meine Hoffnungen hatten auf Sylvia Pemberton geruht.
    Mit jeder neuen Begegnung in diesem Haus war mein Bedürfnis, sie zu sehen, stärker geworden, als werde sie die einzige sein, die sich ehrlich freuen würde, mich wiederzusehen. Aber nun war sie tot.
    »Es tut mir leid, Leyla«, sagte Anna. »Ich hätte es dir sagen sollen. Jetzt habe ich dir das Abendessen verdorben.«
    »Warum so niedergeschmettert, Cousine?« fragte Colin. »Du hast sie doch kaum gekannt.«
    »Entschuldigt mich.« Ich sprang so heftig auf, daß mein Stuhl umkippte.
    »Ach Gott!« sagte jemand; und Henry eilte um den Tisch herum zu mir.
    »Es ist zuviel für sie«, sagte Anna. »Erst ihre Mutter, jetzt Sylvia. Das arme Ding braucht Ruhe. Bring sie hinauf, Henry. Ich schicke Gertrude mit einer Tasse Tee.«
    Ich fühlte mich wie von Schleiern eingehüllt, als Henry mich aus dem Speisezimmer führte. Bis zu diesem Augenblick war ich mir nicht bewußt gewesen, wie sehr ich mich auf Tante Sylvias herzlichen Empfang verlassen hatte.
    Henry schob seine Hand unter meinen Ellbogen und half mir die Treppe hinauf.
    Der Geruch seines Haaröls stieg mir betäubend in die Nase, und die dunklen Wände schienen um mich herum zusammenzurücken. Ich würde nicht ohnmächtig werden, das war mir noch nie passiert, und doch schien es mir, als wäre ich nahe daran. In meiner Enttäuschung über Sylvias Tod war ich wütend auf die anderen. Jeder hatte die Gelegenheit gehabt, mir die traurige Wahrheit zu sagen, doch keiner hatte es getan. Warum nicht? Sie war doch nur eine fünfundsiebzigjährige unverheiratete Großtante gewesen, an die ich mich nicht erinnern konnte. Warum hatten sie geglaubt, ihr Tod könne mir etwas bedeuten? Warum hatten sie es nicht fertiggebracht, mir die

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