Lockruf des Blutes
als auch übernatürlichen Kriminellen Unterschlupf, weil sie sich auf die eine oder andere Weise deinen Schutz erkauft haben? Auch du gibst dich mit Verbrechern ab. Wo ist der Unterschied zu dem, was ich tue?
Darauf hat Culebra keine Antwort. Er blickt sich in der Bar um, sieht dann wieder mich an, und seine Verbitterung ist verflogen. Früher oder später wirst du akzeptieren müssen, was du jetzt bist.
Was habe ich denn nicht akzeptiert? Ich bin doch hier, oder? Aber ich will mir nicht selbst die Zeit mit jenen, die mir etwas bedeuten, verweigern. Williams wird mich nicht dazu überreden können. Und du auch nicht.
Plötzlich wirkt Culebras Gesicht, als hätte sich eine düstere Wolke verzogen, und seine Gedanken werden klarer und neutraler. Seine Mundwinkel heben sich. Ich bin ungeduldig. Unlogisch für einen Unsterblichen, das ist mir klar. Du gehst jetzt besser. Der Stau an der Grenze wird schon recht lang sein. Soweit ich weiß, erwarten deine Eltern dich zum Abendessen.
Ich weiß genau, dass ich das nicht erwähnt hatte. Ich ziehe eine Augenbraue hoch. Wieder hat er eine Information aus meinem Unterbewusstsein gezogen. Ich werfe ihm einen finsteren Blick zu. Du machst mich wütend, weißt du das?
Er lächelt.
Ich winke zum Abschied. Ich werde ihn erst wiedersehen, wenn der Hunger mich erneut überkommt. Seine Predigten werde ich nicht vermissen.
Mein Wagen steht vor dem Saloon. Dieser ist nur eine staubige, gedrungene Holzhütte unter vielen, die die einzige Straße säumen. Der Ort liegt nur eine Autostunde von der Grenze entfernt, und dennoch wagt sich nie jemand ungebeten hierher. Ich vermute, Culebra hat eine Art Schutzzauber über den Ort gelegt.
Schon wieder etwas, das mir noch vor zwei Monaten lächerlich absurd erschienen wäre.
Zwei Monate. Sechzig Tage, seit ein Handgemenge auf einem dunklen Parkplatz mich für immer verändert hat. Es kommt mir sogar jetzt noch unwirklich vor. Mein Partner David und ich waren auf einem nächtlichen Einsatz. Eine einfache Festnahme, die so schnell und mühelos hätte laufen sollen wie hundert andere, die wir als Kopfgeldjäger schon gemacht hatten. Der Kerl war Buchhalter und wurde wegen Unterschlagung gesucht. Keine Polizeiakte. Nie wegen Gewalttätigkeit aufgefallen. Was wir nicht wussten, was wir nicht wissen konnten , war, dass er ein frisch verwandelter Vampir war.
Er überwältigte David und griff dann mich an. Er wollte mich töten. Das gelang ihm nicht. Jedenfalls nicht das, was man normalerweise unter »Töten« versteht. Doch während des Kampfes kam es zum Austausch von Blut zwischen uns.
Ich wurde ebenfalls zu einem Vampir.
Ich vertraute dem Arzt, Avery, der mich danach im Krankenhaus behandelte, doch mein Vertrauen wurde grausam missbraucht. Avery glaubte, er müsse mich dazu bringen, mich von meiner sterblichen Familie abzuwenden, indem er mein Haus niederbrannte und meinen Partner und Freund David entführte. Stattdessen weckte er damit den Zorn eines weiblichen Vampirs, der eben erst seine neuen Kräfte entdeckte. Ich habe ihn getötet. Und jetzt bin ich mehr denn je entschlossen, die wenige Zeit, die mir mit meiner menschlichen Familie bleibt, nicht aufzugeben.
Sie ist alles, was ich habe.
Ich werfe einen Blick auf die Uhr.
Culebra hatte recht. Ich muss los. Meine Eltern leben in Mount Helix, einer verschlafenen Vorstadt östlich von San Diego. Sie erwarten mich um sechs, und es wird allmählich knapp. Ich trete das Gaspedal durch und lasse dem Jaguar freien Lauf. In einem Wirbelsturm aus tanzendem Staub rasen wir aus dem Ort.
Ich schaue in den Rückspiegel und sehe Culebra allein auf dem Bürgersteig stehen und mir nachschauen. Er schickt mir einen stummen Abschiedsgruß.
Kapitel 2
M eine Mutter mustert mich über den Rand ihrer Kaffeetasse hinweg. »Anna, du bist so dünn. Und du hast dein Abendessen kaum angerührt. Machst du etwa so eine alberne Low-Carb-Diät?«
Ich verschlucke mich beinahe an einem Mundvoll Kaffee. O ja, ich mache die ultimative Low-Carb-Diät. Ich setze ein strahlendes Lächeln auf. »Natürlich nicht, Mom. Ich habe dir doch schon gesagt, dass ich heute sehr spät zu Mittag gegessen habe.«
Aber ich sehe ihr an, dass sie mir nicht glaubt. Sie ist Rektorin einer Highschool und daher täglich mit den Symptomen von Magersucht und Bulimie konfrontiert. Ich glaube, sie macht sich Sorgen, ich könnte denselben Weg eingeschlagen haben wie einige ihrer Schülerinnen. In zwei Monaten habe ich zehn Kilo abgenommen.
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