Lockruf des Blutes
große Sorgen machen, weil Ihre Tochter in Schwierigkeiten steckt. Aber Sie brauchen einen Privatdetektiv, keinen Kopfgeldjäger. Ich habe genug damit zu tun, Leute aufzuspüren, die eine echte Gefahr für die Gesellschaft darstellen, ich kann nicht nach einem weggelaufenen Teenager suchen.«
»Das glauben Sie also? Dass sie nur ein weggelaufener Teenager ist?«
»Na ja, stimmt das denn nicht?« Mein Nacken prickelt vor Widerwillen. »Was hat sie getan? Ist sie beim Dealen erwischt worden? Und warum, um alles in der Welt, kommen Sie zu meinen Eltern nach Hause, um mich um Hilfe zu bitten?«
»Ich wusste nicht, an wen ich mich sonst wenden sollte«, sagt sie und zieht scharf die Luft ein.
»Wie wäre es mit der Polizei? Oder ihrem Vater? Warum gehen Sie nicht … «
»Ich glaube, Trish hat vielleicht jemanden umgebracht.«
Sie sagt das so traurig, so leise, dass ich zuerst glaube, ich hätte mich verhört. Mom und Dad starren sie an. Mein Puls beginnt zu rasen.
»Sie vermuten, dass Trish jemanden ermordet hat?«
»Es ist nicht ihre Schuld«, sagt Carolyn. »Sie kann nichts dafür. Es war dieser Lehrer.«
»Lehrer?«, fährt Moms rasiermesserscharfe Stimme dazwischen.
»Er heißt Daniel Frey«, sagt Carolyn. »Er unterrichtet Englisch. Er spielt auch den Mentor und benutzt seine ›sensible Art‹, um sie mit ihrem inneren Selbst in Berührung zu bringen, während er alles andere berührt.« Carolyns Stimme klingt nicht mehr unsicher und zittrig, sie wird immer hitziger. »Er ist ein Drogendealer, unter anderem, und ein Pädophiler …«
Mom drückt beide Hände vor die Augen, als hätte sie Schmerzen. »Haben Sie dafür irgendwelche Beweise?«
Die Frage überrascht mich so, dass mein Blick unwillkürlich von Carolyn zu meiner Mutter flackert. »Du klingst, als würde dich das nicht überraschen.«
Sie lässt die Hände sinken und wendet sich von mir ab, um Carolyn anzusehen. »Ich habe Gerüchte gehört«, sagt sie. »Aber sie wurden nie durch etwas Handfestes untermauert. Daniel Frey ist Lehrer auf Lebenszeit mit sauberer Akte und guten Leistungen. Seine Studenten mögen ihn sehr. Ohne einen Beweis für einen Fehltritt konnte ich nie etwas unternehmen.«
Carolyn sieht meiner Mutter tief in die Augen. »Hören Sie mich an«, sagt sie. »Helfen Sie mir, Trish zu finden. Dann bekommen Sie so viele Beweise, wie Sie brauchen.«
»Moment mal.« Ich kann dieser plötzlichen Wendung des Gesprächs kaum noch folgen. »Mom, Carolyn sollte das trotzdem der Polizei erzählen. Sie hat kein Recht, dich da mit hineinzuziehen. Wenn sie glaubt, sie dürfte das, nur weil sie und Steve mal befreundet waren … «
»Wir waren mehr als nur befreundet. Das wissen Sie genau.«
Sie spricht sehr leise.
»Also schön. Mehr als nur befreundet. Das gibt Ihnen aber noch lange nicht das Recht … «
Meine Mutter schnappt plötzlich nach Luft und hebt die Hand, um mich zum Schweigen zu bringen. »Anna. Warte. Trish ist dreizehn.«
Ich verstehe nicht, was Mom damit sagen will, und ich bin nicht bereit, den Widerwillen abzulegen, den ich Carolyn gegenüber empfinde. Ihre Anwesenheit hier bringt einen ganzen Schwall unschöner Erinnerungen zurück, und ich sehe ja, wie sehr das meinen Eltern zu schaffen macht. Ich will sie hier raus haben. »Na und?«
Carolyn wendet sich meiner Mutter zu. »Sie wissen es, nicht wahr?«
Ich stoße unwillig die Luft aus. »Was soll sie wissen?«
Moms Stimme klingt hohl vor Schock. »Trish ist Steves Tochter.«
Ich starre Carolyn in die Augen. »Was reden Sie denn da? Trish kann nicht Steves Tochter sein.«
Carolyns Gesichtsausdruck verändert sich schlagartig, wie ein dunkler Spiegel, wenn plötzlich das Licht angeschaltet wird, von Unsicherheit zu Erleichterung. »Doch«, sagt sie. »Sie ist seine Tochter. Trish ist Ihre Nichte.«
Kapitel 4
W as haben Sie gesagt?« Ich erkenne meine eigene Stimme kaum, so heiser klingt sie vor Wut über diese Lüge und Empörung über die Dreistigkeit dieser Frau.
»Es ist wahr«, sagt Carolyn. »Trish ist Ihre Nichte, die Enkelin Ihrer Eltern.«
Ich mache einen Schritt auf sie zu. Dass sie es wagt, das Haus meiner Eltern zu betreten und ihnen eine derart ungeheuerliche Lüge aufzutischen, ist fast zu viel für meine ohnehin nicht besonders starke Selbstbeherrschung. »Verschwinden Sie.« Die Worte klingen wie ein Knurren, eher tierisch als menschlich. Doch meine Mutter legt mir eine Hand auf den Arm. Ihre Lippen werden zu einem dünnen, harten Strich,
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