Lockruf des Blutes
Arbeitsfläche zu. Ihr Kopf ist gesenkt, doch ich weiß, dass irgendetwas sie erschüttert hat. Mein Bruder war achtzehn, als er starb, zwei Jahre älter als ich. Auf dem Weg zu einer Vorlesung an der Cornell University wurde er von einem Betrunkenen überfahren. Das ist vierzehn Jahre her, doch eine solche Wunde hört niemals auf zu schmerzen. Carolyn war seine erste richtige Freundin gewesen.
Mein Vater ist vom Tisch aufgestanden und tritt mit weiterem Geschirr in der Hand zu uns ans Spülbecken. »Was ist mit ihr?«, wiederholt er.
Mom neigt den Kopf zur Seite und sieht uns endlich an. »Sie ist hier, in der Stadt. Sie hat gerade angerufen und wollte deine Telefonnummer, Anna. Ich habe ihr gesagt, dass du hier bist, und da sie von einer Tankstelle ein paar Kilometer weiter angerufen hat, habe ich sie eingeladen, gleich vorbeizuschauen.«
Das Kribbeln wird zu einem kräftigen Ruck, der mich durchfährt. Warum sollte eine Freundin meines Bruders, eine Frau, die wir nur einmal vor vierzehn Jahren gesehen haben, sich jetzt mit mir in Verbindung setzen wollen? Ich drehe mich wieder zur Spüle um und beschäftige mich mit dem Abwasch, während sich meine Gedanken überschlagen.
»Was glaubst du, warum sie dich sehen möchte, Anna?«, fragt Mom.
Ich zucke lächelnd mit den Schultern. Ich habe keine Ahnung, warum Carolyn heute Abend hierherkommt. Und ich erzähle ihnen lieber nichts von meinem Verdacht, dass dieser ruhige, gemütliche Abend, den ich heute mit meinen Eltern verbringen wollte, sich wohl leider völlig anders entwickeln wird.
Kapitel 3
D as Bild, das ich von Carolyn Delaney vor so vielen Jahren in Erinnerung habe, ist deutlich. Sie war eine zierliche Blondine mit blauen Augen, einem betörenden Lächeln, einer lebhaften, heiteren Persönlichkeit, und sie war Cheerleader, man stelle sich das vor. All das in Verbindung mit der Tatsache, dass Steve offensichtlich total verliebt in sie war, ließ mir praktisch nichts anderes übrig, als sie zu hassen.
Doch noch viel schlimmer war, dass Carolyn damals eine sehr erotische Ausstrahlung besaß. Nicht die typische, ungeschickte Highschool-Erotik im Probierstadium, die ich damals selbst erlebte, sondern echten Sex-Appeal. Ich war erst sechzehn, aber mir war klar, dass sie und Steve miteinander schliefen . Ich wusste, dass Carolyn meinen Bruder auf eine Weise an sich fesselte, mit der ich niemals konkurrieren konnte.
Wie ein Wirbelwind kreist all das nun durch meinen Kopf, während ich mich wappne, der Frau gegenüberzutreten, die vor so vielen Jahren meinen Platz im Herzen meines Bruders an sich gerissen hatte. Das wurmt mich immer noch, vor allem, da sie nicht einmal geruht hat, zu Steves Beerdigung zu erscheinen.
Ich will als Erste an der Tür sein, doch als es klingelt, ist Mom schneller. Ich mache mir Sorgen, wie meine Eltern auf diesen Besuch reagieren werden. Das erste und einzige Mal, dass sie Carolyn bisher gesehen hatten, war, als Steve sie während der Ferien einmal mit nach Hause brachte.
Mom geleitet Carolyn mit einer Hand auf deren Arm ins Wohnzimmer. Carolyn hat die andere Hand auf Moms gelegt, und die Geste wirkt, als könnte sie ohne diese Unterstützung die Nerven verlieren und die Flucht ergreifen. Sie hebt das Kinn und sieht meinen Vater und mich an. Ihre Miene scheint auszudrücken, dass sie wohl weiß, wie sehr sie sich in den Jahren verändert hat, seit sie an Steves Arm diesen Raum betrat.
Diese Jahre waren nicht besonders gnädig mit ihr. Sie ist übergewichtig und hat diese füllige, unförmige Figur einer Frau, die seit dem College keinen Sport mehr getrieben hat. Sie trägt ausgebeulte Jeans und ein übergroßes graues Sweatshirt, das ihr fast bis zu den Knien reicht. Eine Umhängetasche von der Größe eines kleinen Koffers hängt über einer Schulter. Ihr platinblondes Haar ist zur Farbe von Spülwasser verblasst, und die einst so strahlenden Augen haben nun herabgezogene Augenwinkel, als hätte häufiges Stirnrunzeln sie erschlaffen lassen. Das betörende Lächeln ist spurlos verschwunden.
Sie lässt die Riesentasche zu Boden gleiten und wendet sich meinem Vater zu. »Sie sind Steves Dad. James, richtig?«
Er antwortet mit einem knappen Nicken, nimmt ihren anderen Arm und führt sie zum Sofa. »Möchten Sie sich nicht setzen? Hätten Sie gern etwas zu trinken? Kaffee? Oder etwas Stärkeres?«
Sie schüttelt den Kopf. »Nein danke.« Sie lässt sich auf die Couch sinken und lehnt einen Moment lang den Kopf an die
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