Lockwood & Co. - Die Seufzende Wendeltreppe: Band 1 (German Edition)
getan hatte, nicht. In der Nacht in der Sheen Street hatte ich die Stimme des ermordeten Mädchens gehört. Und ich hatte sie gesehen – so, wie sie einst gewesen war, und dann als das verschrumpelte, erbärmliche Wesen, das aus ihr geworden war. Trotz der ausgestandenen Ängste bei der Austreibung, trotz der Bosheit des rachsüchtigen Geists ging mir das nicht mehr aus dem Kopf.
Nachdem die sterblichen Überreste zu Asche geworden waren, blieb einzig diese Kette von ihr übrig: von Annabel Ward, ihrem Leben und Sterben, ihrer rätselhaften Geschichte.
Und jetzt sollte dieses letzte Andenken auch noch im Feuer landen?
Das kam mir einfach nicht richtig vor.
Ich hielt mir das Glas dicht vor die Augen und starrte hinein. »Du, Lockwood«, sagte ich, »darf ich die Kette mal rausnehmen?«
Er seufzte. »Wenn’s unbedingt sein muss. Es ist ja Tag. Da kann eigentlich nichts passieren.«
Es war in der Tat unwahrscheinlich, dass Annabel Wards Geist tagsüber aus dem Schmuckstück schlüpfte. Und doch war der Geist mit der Kette verknüpft, ob sie nun seine Quelle war oder ob ihm die Kette nur als Pforte ins Diesseits diente. Darum lief es mir kalt über den Rücken, als ich den Eisenverschluss löste und das Glas öffnete.
Und da war sie: Sie sah nicht gefährlicher aus als die Marmeladenlöffel und Buttermesser auf dem sonnenbeschienenen Tisch. Ein zierliches Schmuckstück an einer zarten goldenen Kette. Ich zog sie aus dem Glas, schauderte kurz unter der eiskalten Berührung auf meiner Haut und sah sie mir zum ersten Mal richtig an.
Die Kette bestand aus ineinanderverschlungenen goldenen Gliedern, die bis auf wenige schwarz verklebte Stellen glänzten und schimmerten. Der Anhänger selbst war ungefähr so groß wie eine Walnuss und von ovaler Form. Weil George draufgetreten war, war er ein wenig eingedrückt, aber man sah immer noch, wie zauberhaft er war. An seinem Rand waren Dutzende roséfarben schillernde Perlmuttstückchen in ein goldenes Gitterwerk eingelegt. Allerdings waren die meisten Perlmuttstückchen inzwischen herausgefallen und der Anhänger selbst war wie die Kette von schwarzen Flecken verunziert. Der schlimmste Schaden aber war (und noch mal besten Dank an George), dass das Oval am Rand einen deutlich sichtbaren, umlaufenden Riss bekommen hatte.
Viel mehr interessierte mich jedoch das erhaben gearbeitete Herz, das die Vorderseite schmückte. Hauchfeine Linien waren darin eingraviert.
»Oh«, rief ich. »Da ist was eingraviert!«
Ich hielt das Medaillon ins Licht und ließ meine Finger über die Buchstaben gleiten. Plötzlich vernahm ich Stimmen. Ein Mann und eine Frau unterhielten sich, dann lachte die Frau schrill auf.
Ich blinzelte, worauf die Stimmen verklangen. Ich starrte auf den Gegenstand in meiner Hand. Mein Ausruf hatte die anderen neugierig gemacht. Lockwood war aufgestanden und kam um den Tisch herum. George ließ den Abwasch stehen und beugte sich mit dem Geschirrtuch in der Hand von der anderen Seite über mich.
Vier Wörter. Wir betrachteten sie eine Weile schweigend.
Tormentum meum
laetitia mea
Was mochte das bedeuten?
»Tormentum …«, sagte George nachdenklich. »Das hört sich ja heiter an.«
»Das ist Lateinisch«, sagte Lockwood. »Haben wir nicht irgendwo ein Wörterbuch?«
»Bestimmt hat der Mann, der ihr die Kette geschenkt hat, die Inschrift eingravieren lassen«, sagte ich. »Ihr Liebster …« In Gedanken hörte ich wieder die beiden Stimmen.
»Wieso muss es unbedingt ein Kerl gewesen sein?«, widersprach George. »Vielleicht hat ihr ja auch eine Freundin die Kette geschenkt. Oder ihre Mutter.«
»Glaub ich nicht. Schau dir doch das Symbol darauf an. Außerdem trägt man so einen Anhänger, damit man die Worte seines Liebsten immer ganz nah an seinem Herzen tragen kann.«
»Als ob du von so was eine Ahnung hättest«, sagte George.
»Aber du!«, konterte ich.
»Lass uns mal einen Blick drauf werfen«, sagte Lockwood. Er zog seinen Stuhl neben meinen, nahm mir die Kette aus der Hand und inspizierte sie stirnrunzelnd.
»Eine lateinische Inschrift … das Geschenk eines Liebsten … ein verschwundenes Mädchen …« George warf sich das nasse Geschirrhandtuch über die Schulter und ging wieder zur Spüle. »Bisschen sehr geheimnisvoll.«
»Und ob«, sagte Lockwood. »Und ob!« Wir schauten ihn erstaunt an. Seine Augen leuchteten, er saß kerzengerade da. Die trübe Stimmung, die ihn den ganzen Morgen umgeben hatte, war verflogen wie Wolken im Wind.
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