Lockwood & Co. - Die Seufzende Wendeltreppe: Band 1 (German Edition)
nichts versprechen. Du weißt ja, durch Fühlen empfängt man normalerweise nur Geräusche und Emotionen, keine konkreten Hinweise. Wenn also …«
»Großartig!« Er schob mir die Kette über den Tisch zu. »Kann ich dich irgendwie unterstützen? Zum Beispiel, indem ich dir einen frischen Tee mache?«
»Nein danke. Sei einfach still, damit ich mich konzentrieren kann.«
Aber ich zögerte noch. Das war nichts, was man auf die leichte Schulter nehmen konnte. Der unbändige Zorn und Hass des Geistermädchens waren mir noch lebhaft in Erinnerung. Ihr Schicksal war kein angenehmes gewesen. Darum ließ ich mir Zeit. Ich betrachtete die Kette mit dem Anhänger und versuchte, meinen Kopf so gut es ging freizubekommen. Ich schob all die diffusen, drängenden Sorgen des täglichen Lebens von mir.
Schließlich nahm ich das Schmuckstück in die Hand. Die Eiseskälte des Metalls ging mir durch und durch.
Ich lauschte.
Dann hörte ich es wieder. Erst plauderten der Mann und die Frau miteinander, dann lachte die Frau und der Mann stimmte ein. Dann spürte ich eine Woge aus Freude und Leidenschaft. Ich fühlte die Hochstimmung der jungen Frau, ihre fieberhafte Freude. Ein überwältigendes Glücksgefühl überschwemmte mich … Doch der Ton des Gelächters veränderte sich und bekam etwas Hysterisches. Die Männerstimme wurde barscher, klang verzerrt. Scharf und kalt durchfuhr mich die Angst … Dann kehrte die Freude zurück und alles war gut, gut, war gut … Bis das Glück sich abermals trübte und die Stimmen unwirsch und laut wurden. Ich war krank vor Eifersucht und blinder Wut … So ging es immer im Kreis, rundherum, während die Gefühlsumschwünge vorbeiflogen wie auf dem Karussell in Hexham, mit dem mich meine Mutter ein einziges Mal hatte fahren lassen, und ich war voller Freude und schrecklicher Angst zugleich und begriff, dass ich nicht einfach aussteigen konnte. Dann wurde es schlagartig still, nur eine kalte Stimme sprach mir direkt ins Ohr, und ein letzter Wutausbruch gipfelte in einem gequälten Schrei … der, wie ich erschrocken feststellte, aus meinem eigenen Mund kam.
Ich schlug die Augen auf. Lockwood hielt mich fest, damit ich nicht vom Stuhl kippte. Die Tür flog auf und George kam in die Küche gestürmt.
»Was ist denn jetzt schon wieder los?«, rief er. »Kann man euch beide nicht mal eine Minute allein lassen?«
»Lucy …«, sagte Lockwood. Er war leichenblass. »Das wollte ich nicht! Es war blöd von mir, dich darum zu bitten. Geht’s wieder? Was war denn los?«
»Keine Ahnung …« Ich stieß ihn weg und ließ den Anhänger auf den Tisch fallen. Dort kreiselte er glitzernd. »Ich hätte das lassen sollen«, sagte ich. »Die Spuren sind zu stark. Der Anhänger ist zu eng mit ihrem Geist und ihren Erinnerungen verknüpft. Einen Augenblick lang war ich sie und das war überhaupt nicht schön. Ihr Zorn ist fürchterlich.«
Einen Augenblick lang saß ich einfach nur da, in der sonnigen Küche, und wartete, bis die Eindrücke verklangen wie ein Traum, der allmählich verblasst. Die beiden Jungen bedrängten mich nicht.
»Aber eins kann ich dir versichern«, fuhr ich dann fort. »Vielleicht ist es der Hinweis, nach dem du suchst, vielleicht auch nicht, aber da ist eine Sache, die ich sicher weiß. Das haben die Gefühle, die ich wahrgenommen habe, deutlich gemacht.«
»Ja?«, fragte Lockwood.
»Der Mann, der ihr die Kette geschenkt hat, war auch derjenige, der sie umgebracht hat.«
Kapitel 13
Am frühen Nachmittag gingen wir zu Fuß zum U-Bahnhof Baker Street. Es war gut, an der frischen Luft zu sein, noch dazu bei schönstem Sonnenschein. Wir alle fühlten uns beschwingt. Wir trugen Alltagskleidung: Lockwood einen langen braunen Ledermantel, in dem er noch schlanker und lässiger aussah als sonst, George eine hoffnungslos ausgebeulte Jacke mit einem Gummizug an der Taille, in der er noch stämmiger aussah als sonst. Ich trug, was ich immer anhabe: dicke Jacke, Rollkragenpulli, kurzer schwarzer Rock und Leggings. Außerdem hatten wir alle drei unsere Degen angelegt (meiner war eine der Reservewaffen aus der Diele). Diese – und unsere übel zugerichteten Gesichter – verrieten unseren Beruf und unseren Stand und die Leute auf dem Bürgersteig machten uns Platz.
In der U-Bahn war es voll und roch süßlich und betäubend nach Lavendel. Die Männer trugen Zweige des schützenden Krauts in den Knopflöchern, die Frauen an den Hüten. In der Neonbeleuchtung des Waggons funkelten und
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