Lockwood & Co. - Die Seufzende Wendeltreppe: Band 1 (German Edition)
»Erinnerst du dich noch an den aufsehenerregenden Fall, den Tendy damals untersucht hat, George? Es muss so ein, zwei Jahre her sein. Der Fall mit den beiden umschlungenen Skeletten.«
»Du meinst die Geschichte mit der Wimmernden Weide ? Klar. Sie haben sogar einen Preis dafür gekriegt.«
»Und jede Menge Aufmerksamkeit. Und zwar, weil sie die Besucher nicht nur gebannt, sondern auch herausgefunden haben, wer die Toten waren. Bei dem einen Skelett lag eine diamantenbesetzte Krawattennadel, die sie zu dem Juwelier zurückverfolgt haben, der sie angefertigt hatte, und der Juwelier wiederum konnte ihnen sagen, dass der Besitzer …«
»… der junge Lord Ardley war«, fiel ich Lockwood ins Wort, »der seit dem neunzehnten Jahrhundert als verschollen galt. Man hatte immer angenommen, dass er sich heimlich nach Übersee eingeschifft habe. Dabei lag er die ganze Zeit im Park des Familiensitzes, wo ihn sein jüngerer Bruder verscharrt hatte, damit er selbst das Anwesen erben konnte. So war’s doch, oder?« Niemand sprach. Ich sah die beiden an. »Warum überrascht euch das? Ich lese auch ab und zu Die größten Heimsuchungen der Neuzeit .«
»Warum auch nicht«, sagte Lockwood. »Anscheinend merkst du dir sogar, was du liest. Jedenfalls war es eine tolle Geschichte und Tendy hat unglaublich davon profitiert. Inzwischen sind sie die viertgrößte Agentur in London. Die Frage ist …«, murmelte er und starrte gedankenverloren die Kette in seiner Hand an.
»Ob wir von Annabel Ward genauso profitieren können?«, führte George den Satz zu Ende. »Lockwood, weißt du, wie viele Besucher hier in London ihr Unwesen treiben? Im ganzen Land? Es ist eine Epidemie. Den Leuten sind deren Geschichten völlig egal. Sie wollen einfach nur, dass sie verschwinden.«
»Trotzdem sind die spannenderen Fälle immer wieder für eine prominente Schlagzeile gut«, antwortete Lockwood. »Und dieser Fall hat die besten Voraussetzungen dafür. Überlegt doch mal! Eine junge Dame aus der feinen Gesellschaft, brutal ermordet und jahrzehntelang vermisst, zwei unglücklich Liebende – und eine kleine, aber kreative Agentur, die endlich die Wahrheit ans Licht bringt …« Er strahlte uns an. »Wenn wir es richtig anstellen, könnte uns damit der Durchbruch gelingen! Wir könnten reich und berühmt werden! Allerdings sollten wir nicht noch mehr Zeit vertrödeln. Holst du mal bitte das Latein-Wörterbuch, George? Es steht irgendwo im ersten Stock. Danke!« George trabte los. »Und du könntest auch etwas tun, Lucy.«
Ich gaffte ihn an. Die Verwandlung des grummeligen Häufchen Elends, das er eben noch gewesen war, war vollkommen. Er bewegte sich behände, die Verletzungen waren vergessen, und seine dunklen Augen funkelten, als er mich nun anschaute. Von jetzt auf gleich schien es, als sei ich plötzlich das faszinierendste Wesen der Welt.
»Verrat mir eins«, sagte er. »Ich traue mich ja fast nicht zu fragen, wenn ich dran denke, was wir in den letzten beiden Tagen durchgemacht haben, aber … als du den Anhänger vorhin in der Hand gehalten hast, hast du da irgendetwas … wahrgenommen?«
»Wenn du damit einen übersinnlichen Widerhall meinst, dann lautet die Antwort: ja. Ich habe Stimmen gehört und Gelächter. Aber nur kurz. Ich habe mich nicht darauf konzentriert.«
Lockwood schenkte mir ein ermutigendes Lächeln. »Und wenn du dich konzentrieren würdest?«
»Soll ich es noch mal probieren?«
»Ja! Das ist eine tolle Idee. Vielleicht schnappst du ja irgendeinen Hinweis auf, der uns weiterhilft.«
Ich hielt seinen eindringlichen Blick nicht mehr aus und wandte den Kopf ab. »Doch, schon … ich weiß nicht.«
»Wenn irgendwer das kann, dann du , Lucy! Du bist großartig darin. Bitte versuch es!«
Vor ein paar Minuten wollte er die Kette noch in den Schmelzofen werfen. Jetzt sollte sie auf einmal die Lösung all unserer Probleme sein? Vor ein paar Minuten hatte er mir noch eine Standpauke gehalten, nun war ich sein Augenstern. Das war typisch Lockwood. Seine Stimmung konnte so plötzlich umschlagen, dass einem die Luft wegblieb, aber seinem Tatendrang und seiner Begeisterungsfähigkeit konnte man einfach nicht widerstehen. Über uns stapfte George geschäftig hin und her und plötzlich wollte auch ich unbedingt das Schicksal des toten Mädchens aufklären und gleichzeitig unsere Agentur retten.
Außerdem schmeichelte mir Lockwoods Lob natürlich.
Ich seufzte schwer. »Na schön, ich versuch’s«, sagte ich. »Aber ich kann
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