Lockwood & Co. - Die Seufzende Wendeltreppe: Band 1 (German Edition)
an. Blasser Novembersonnenschein flutete durch das Küchenfenster und warf sein freundliches Licht auf das übliche Frühstückschaos. Die bunten Aufdrucke der Cornflakes-Packungen leuchteten, Schüsseln und Gläser funkelten, jeder Krümel und jeder Marmeladenklecks hob sich überdeutlich von der Tischplatte ab. In der Küche war es behaglich warm und es duftete verlockend nach starkem Tee, Toast und Rührei mit Speck.
Mir ging es beschissen.
»Warum hast du das gemacht, Lucy?«, fragte Lockwood zum x-ten Mal. »Ich verstehe das einfach nicht! Du weißt doch, dass ein Agent jedes Artefakt melden muss, das er entdeckt. Erst recht, wenn es so eng mit einem Besucher verknüpft ist. Solche Dinge müssen ordentlich weggeschlossen werden.«
»Ich weiß.«
»Man muss sie so lange in einem Behälter aus Eisen oder Silberglas aufbewahren, bis man dazukommt, sie zu untersuchen oder zu vernichten.«
»Ich weiß.«
»Trotzdem hast du die Kette einfach in die Tasche gesteckt und weder mir noch George ein Wort gesagt.«
»Ja doch. Ich hab mich doch schon entschuldigt! Ich hab so was vorher noch nie gemacht.«
»Warum dann ausgerechnet jetzt?«
Ich holte tief Luft. Mit gesenktem Kopf ließ ich die Strafpredigt nun schon mehrere Minuten über mich ergehen und kritzelte dabei auf das Weise Tuch. Ich zeichnete ein schmales Mädchen in einem altmodischen Sommerkleid. Die Haare wehten ihr um den Kopf und ihre Augenhöhlen waren leer. Ich drückte den Stift so fest auf, dass sich die Mine wahrscheinlich in die Holzplatte unter dem Tuch bohrte.
»Ich weiß auch nicht«, sagte ich leise. »Es ging alles so schnell. Vielleicht habe ich die Kette mitgenommen, weil das Zimmer gebrannt hat … weil ich irgendetwas retten wollte, das an das Mädchen erinnert …« Ich zeichnete eine große schwarze Sonnenblume mitten auf das Kleid. »Aber ehrlich, ich kann mich kaum noch erinnern, sie eingesteckt zu haben. Und danach … hab ich’s einfach vergessen.«
»Barnes erzählen wir lieber nichts davon«, warf George ein. »Der Typ geht an die Decke, wenn er hört, dass du aus Versehen einen gefährlichen Besucher durch halb London geschleppt hast. Dann hat er noch einen Grund, unsere Agentur dichtzumachen.«
Aus dem Augenwinkel sah ich, wie er sich mit selbstzufriedener Miene eine dicke Schicht Marmelade auf sein getoastetes Hörnchen schmierte. George war an diesem Morgen in Bestform. Wie ein Fisch im Wasser. Er genoss es sichtlich, dass Lockwood mich herunterputzte.
»Vergessen?«, wiederholte Lockwood. »Das ist deine Entschuldigung?«
Allmählich wurde es mir zu bunt. Ich hob den Kopf und strich mir die Haare aus dem Gesicht. »Ja, genau«, antwortete ich, »und wenn du wissen willst, warum, darf ich dich dran erinnern, dass ich nach unserem Sturz aus dem Fenster erst im Krankenhaus beschäftigt war und anschließend damit zu tun hatte, mir Sorgen um dich zu machen. Außerdem konnte ich nicht ahnen, dass die Kette solche Kräfte besitzt. Immerhin hatten wir die Quelle des Geistes versiegelt.«
»Eben nicht!« Lockwood stieß den Zeigefinger der gesunden Hand auf das Tischtuch. »Das ist es ja gerade! Das dachten wir, aber das war nicht der Fall. Wir hatten die Quelle nicht versiegelt, Lucy, denn offensichtlich ist sie hier! «
Er zeigte anklagend auf den kleinen Silberglasbehälter, der zwischen Teekanne und Butterdose stand. Das Glas funkelte in der Sonne, sodass man die goldene Kette darin kaum erkennen konnte.
»Aber wie kann das die Quelle sein?«, rief ich. »Es hätten ihre Überreste sein müssen!«
Er schüttelte bedauernd seinen Kopf. »Wir haben uns getäuscht, weil der Geist im gleichen Augenblick verschwunden ist, in dem du das Silbernetz über die Leiche – und damit auch die Halskette – gelegt hast. Hättest du es dabei belassen, wäre alles gut gewesen. Aber dann hast du die Kette geklaut …«
»Ich habe gar nichts geklaut !«, sagte ich wütend.
»… und in deine Tasche gesteckt, die voller Salzpäckchen und Eisenspäne und anderer Ausrüstungsgegenstände war, die zusammen mehr als ausreichend waren, um den Besucher für den Rest der Nacht zu bannen. Aber beim Heimkommen hast du deine Jacke auf den Stuhl geworfen und die Kette ist herausgefallen. Sie lag unter deinen Kleidern, bis der Geist bei Anbruch der Dunkelheit herauskommen konnte.«
»Trotzdem kapiere ich nicht, warum der Geist plötzlich nicht mehr so schnell und stark war wie in der Nacht zuvor«, sagte George. »So wie du ihn beschrieben hast,
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