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Loewenmutter

Loewenmutter

Titel: Loewenmutter
Autoren: Esma Abdelhamid
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arabischen Migrantin heraus.
    Esmas Text hat mich berührt und aufgewühlt. »Ich möchte so gern vielen Frauen, denen Ähnliches widerfahren ist, Mut machen«, schrieb sie, und ich erschrak. Wer sind diese Frauen, denen Ähnliches passiert? Lebten sie in meiner Nachbarschaft. »Bist du auch zur Sklavin erzogen worden, zwangsverheiratet und ohne Anrecht auf Liebe?«, fragte ich insgeheim, wenn ich auf den Elternabenden meiner Kinder migrantischen Müttern begegnete. »Werden dir deine Kinder auch weggenommen, wenn du nicht mehr spurst?« Oder: »Kannst du auch nicht lesen und schreiben und wirst deshalb nicht für voll genommen?«
    Wie kann es sein, dass mitten in Deutschland Frauen zwangsverheiratet, eingesperrt, vergewaltigt und geschlagen werden? Und das alles unbemerkt, weil diese Frauen dazu erzogen worden sind, zu dulden, anstatt sich zu wehren. Weil ihre Gefühle von patriarchalen Strukturen unterdrückt werden und weil Mütter genauso wenig wie ihre Töchter Traditionen in Frage stellen, nicht über Tabus und sexuelle Gewalt sprechen, nicht Lesen und nicht Schreiben lernen. Esma hatte den Mut, aus ihrer Anonymität auszubrechen. Sie hat Tabus gebrochen, um die Liebe ihrer Kinder gekämpft und von ihrem Schicksal erzählt.

    Ein paar Monate später bei der Preisverleihung am Weltalphabetisierungstag in Berlin ist Esma Abdelhamid eine von fünf Preisträgern des Schreibwettbewerbs. In der Laudatio wird ein Satz aus dem Text eines Mitbewerbers zitiert: »Nach der Geburt hat Mann oder Frau das Leben am Zoff gepackt. Doch was er oder sie damit macht, ist dem Zoff völlig egal.« Der Wettbewerbsteilnehmer wollte »Zopf« schreiben, hat aber aus Versehen »Zoff« geschrieben. Ein einziger veränderter Buchstabe, und schon entstehen andere Voraussetzungen und neue Bedingungen. So ist das Leben entweder ein Zopf, den man selbst in die Hand nimmt, oder das Leben wird zum Problem, ein »Zoff«, weil andere den Zopf in die Hand nehmen und über einen bestimmen. Auch Esma wurde am Zopf gepackt, sie hat ihn jedoch abgeschnitten und trägt ihre Haare heute kurz.
    Viel Prominenz ist gekommen, viele Reden werden gehalten, zum Schluss werden die prämierten Texte der Analphabeten von Schauspielern gelesen. Als Andrea Sawatzki den Text »Mehr als eine Ehe« vorliest, springt eine Frau mit dunklem Wuschelkopf vom Stuhl auf. Sie hält eine Videokamera in der Hand und filmt. Und während sie filmt, laufen ihr Tränen über die Wangen. Es ist Esma. »Heute ist der glücklichste Tag in meinem Leben«, sagt sie, gleichzeitig lachend und weinend, als sie der Schauspielerin die Hand schüttelt. Sie kann kaum glauben, dass sie das erlebt und geschrieben hat, was sie gerade gehört hat. Der Schreibkurs an der Volkshochschule und der Schreibwettbewerb waren die letzten Mosaiksteine auf der Reise in ihre Selbständigkeit.
    Nachdem Esma ihre Kinder zu sich nach Hamburg geholt hatte, war nicht nur eitel Sonnenschein. Die Rolle der alleinerziehenden Mutter fiel ihr schwer, zumal sie selbst erst gelernt hatte, auf eigenen Füßen zu stehen und erste selbständige Schritte zu gehen. Die traumatischen Erlebnisse der vergangenen Jahre ließen sich nicht von heute auf morgen abschütteln, und immer wieder griff sie auf therapeutische Hilfe zurück. Amal sprach kaum Deutsch und war viel krank, Amin und Jasin litten unter Trotz- und Angstattacken und hatten Schwierigkeiten, Anschluss zu finden. Die Mutter konnte ihren Kindern in der Schule kaum helfen, da sie als Analphabetin weder lesen noch schreiben konnte. Bis heute ist das nicht einfach. Sie schreibt, kann aber nicht immer verständlich machen, was sie meint. Sie liest, versteht aber schlecht, was sie gelesen hat, und kann den Inhalt eines Texts auch kaum wiedergeben.
    Doch eines hatte Esma gelernt: Sie macht sich nicht mehr abhängig. Sie hat sich mit kleinen Jobs durchgeschlagen und ihren Kindern eine gute Schuldbildung ermöglicht. Sie hat Deutsch gelernt und versucht, nach eigenen Wünschen und Vorstellungen zu leben. Sie hat noch einmal geheiratet, einen Sohn geboren und wurde wieder geschieden.
    Und sie ist stolz, dass ihre Kinder das geschafft haben, woran sie selbst immer noch arbeitet: Schulabschluss, Studium, Beruf.
    »Meine Kinder haben Denken und Fühlen gelernt«, sagt sie. Und mir fallen Sprüche ein, die ich selbst als Kind lernte: »Wissen ist Macht« und »Liebe versetzt Berge«. Esma erhielt keine Antwort, wenn sie als Kind neugierige Fragen stellte. Wärme und Liebe musste
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