Loewenmutter
Abdelhamid.«
Endlich! Das war’s, endlich hat die Warterei ein Ende! Mir ist schwindlig, ich will zum Richtertisch stürzen, mich beim Richter bedanken, dem Staatsanwalt und meinem Vater um den Hals fallen, alles auf einmal. Aber ich tue nichts, ich höre nur das Murmeln im Saal und spüre, wie sich eine riesige Last von mir löst. Wie eine Gerölllawine rutscht sie los, erst langsam und unmerklich, dann immer schneller und polternder. Dazwischen die mächtige Stimme des Richters: »Die Kinder werden stolz auf ihre Mutter sein. So wie Sie hier für sie gekämpft haben, werden Sie auch in Zukunft für sie kämpfen. Ihre Kinder haben Glück.«
Noch am gleichen Abend feierten wir ein Fest. Der dritte Geburtstag meines Neffen, des jüngsten Sohnes meines Bruders. Die Familie wohnte am anderen Ende der Stadt, dort wo sich die Häuser ohne Mauern und Vorgärten aneinanderducken und nur den Schafen und den Ziegen einen Durchgang lassen. Mein großer Bruder verdingte sich als Gelegenheitsarbeiter, seine Frau verkaufte Gewürze auf dem Markt. Zwei liebe Menschen. Ich weiß nicht, wie mein Bruder es geschafft hat, so rechtschaffen und gutherzig zu bleiben, obwohl er am meisten Prügel von uns Kindern eingesteckt hat. Auch ihm hatte der Vater eine Frau ausgesucht, mit der er sich nicht vertrug. Erst mit seiner zweiten Frau ist er glücklich geworden.
Die Sonne war gerade untergegangen, ein blassblauer Schleier lag über den weißen Häusern. Die Dämmerung brach bereits herein, und ich hörte das Jaulen der Hunde in der Ferne, ein Geräusch, das überall ist und die Stille des Abends in Schach hält. Das Geburtstagskind kam angerannt: »Tante, Tante aus Deutschland, was hast du mir mitgebracht?« Ich warf den Jungen in die Höhe und drehte mich mit ihm, bis er herzlich lachte. Dann drückte ich ihm ein kleines Auto in die Hand und verzog mich ins Wohnzimmer, während die anderen in der Küche aßen.
Ein kahler Raum mit Matratzen auf dem Boden, Kassettenrecorder, Radio. Auf dem Fernseher stand das gerahmte Foto des Großvaters, um das sich die Familie jahrelang gestritten hatte. Ich ordnete Spitzendeckchen und Plastikblumen, die links und rechts davon in Väschen aufgestellt waren. Ich war allein. Auf dem Boden lag eine Kassette, die hob ich auf und steckte sie in den Recorder. Ich drückte auf Play, hörte den ersten Ton. Eine Weile stand er im Raum, bevor er fortglitt wie ein fliegender Teppich. Trommelmusik der Berber. Da setzte ich mich auf den Boden, breitete mein Kleid über die Beine aus und betrachtete die Fotos der Kinder, die ich seit zwei Jahren in meiner Handtasche immer bei mir trug. Die Bilder waren ganz abgegriffen, sie hatten weiße Sprünge wie Porzellan: Amal mit ihren ängstlich großen Augen und dem Schulranzen auf dem Rücken. Amin, dünn und lang auf dem Fahrrad in Hamburg und Jasin mit einem kleinen Hasen im Zoo. So hatte ich sie in Erinnerung. Wie würden sie heute aussehen?
Morgen! Morgen würden wir die Kinder holen. Und plötzlich packte mich die eindringliche Musik, ich drehte lauter, stand auf, breitete meine Arme aus, legte den Kopf in den Nacken und begann zu tanzen. Einen orientalischen Bauchtanz, so wild und ausgelassen, wie ich seit meiner Hochzeit vor 13 Jahren nicht mehr getanzt habe. Ich hatte ihn schon als Kind gelernt, ursprünglich ein Fruchtbarkeitstanz. An diesem Abend begleitete er meine zweite Geburt.
Früh am nächsten Morgen fuhren wir los. Mein Vater hatte ein Auto gemietet. Es war kühl, das Land noch schwarz-weiß. Wir fuhren nach Osten in Richtung Sonnenaufgang, der die Steppe zuerst violett, später rosa färbte und dann ockergelb und rot. In den Akazienbüschen riefen Lerchen und Regenpfeifer Allah den Gruß. Mein Vater schwieg, ich saß am Lenkrad, trommelte mit den Fingern, schaute ihn von der Seite an: diesen stattlichen und aufrechten Mann mit dem zerfurchten Gesicht, der nur das Beste für seine Familie gewollt und doch so viel Leid über uns gebracht hatte. Er kannte es nicht anders, so war die Tradition. Dann sah ich Männer in weißen Gewändern in der Steppe, die Kamelherden vor sich hertrieben, und Frauen, wie sie auf ihren gebeugten Rücken das in aller Frühe geerntete Gras nach Hause trugen. Nach einem archaischen Gesetz und Rhythmus, nach dem ich nicht mehr leben konnte.
In der Hafenstadt suchten wir einen Gerichtshelfer auf und baten ihn, mit uns zur Schwagerfamilie zu fahren. Wenn wir einen Justizbeamten bei uns hatten, konnte der Schwager das Urteil
Weitere Kostenlose Bücher