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Loewenstern

Loewenstern

Titel: Loewenstern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adolf Muschg
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Seeoffizier, der Caspar Horners Freund gewesen war, trat man nicht zu nahe, wenn man die Fülle seiner Notizen als Stoff verstand, der eine literarische Form vertragen konnte. In Tallinn, zu seiner Zeit: dem russischen Reval, das heute auch als Hauptstadt Estlands sein deutsch-baltisches und hanseatisches Gepräge bewahrt hat, bot sich mir jetzt die Chance, die Umgebung zu besichtigen, in der Löwenstern aufgewachsen und in die er nach seinen Wanderjahren als verheirateter Gutsherr zurückgekehrt war. Sein Gut Rasik, gute dreißig Kilometer südöstlich der Hauptstadt, schwebte mir als Stützpunkt eines literarischen Projekts vor, dessen Gegenpol Japan bilden sollte, das Andere Land, das ich gerade verlassen und das Löwenstern vor über zweihundert Jahren berührt hatte, ohne es eigentlich zu betreten. Darin empfand ich unsere Familienähnlichkeit jenseits von Raum und Zeit.
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    Damals hatte der erste Versuch des Zarenreichs fehlgeschlagen, in Japan Fuß zu fassen, das sich seit dem 16. Jahrhundert von der übrigen Welt zurückgezogen und unter dem Tokugawa-Shogunat eine vergleichsweise hohe Zivilisation entwickelt hatte, mit dem Anspruch eines Kunstwerks, sich selbst zu genügen. Die Berührung mit den Russen stellte sieauf die bisher stärkste Probe. Im Frühjahr 1811 tauchte Kapitän Wassili Michailowitsch Golownin mit seiner Fregatte
Diana
in den südlichen Kurilen auf, um sie zu erkunden und zu kartographieren. Diese Absicht betrachteten die Japaner, welche die südlichen Kurilen als eigenes Territorium besetzt hatten, als unfreundlichen Akt, wozu ihnen vorausgegangene Überfälle von Agenten der Pelz-Compagnie allen Grund gegeben hatten. Als Golownin, zur Aufnahme von Proviant gezwungen, auf der Insel Kunaschir an Land ging, um mit dem Kommandanten der japanischen Festung zu verhandeln, wurde seine Gruppe – drei Offiziere, vier Matrosen und ein kurilischer Dolmetscher – gefangengenommen, unter den Augen seines Stellvertreters und Freundes Rikord, der mit der übrigen Besatzung der
Diana
in der Bucht ankerte und gegen die feindliche Übermacht nichts ausrichten konnte, ohne das Leben der Gefangenen aufs Spiel zu setzen. Als diese abgeführt wurden, verschwanden sie, wie Alice im Wunderland, durch den Spiegel – vielleicht auf Nimmerwiedersehen.
    Mit diesem Schock wurden Angehörige einer europäischen Kultur zu Geiseln einer ganz anderen, und das gerade in der Zeit, wo Rußlands militärische Kraft durch die Invasion von Napoleons Grande Armée gebunden war. Damit wurde Golownins Gefangennahme auf einem Hinterhof der Weltgeschichte zum ersten Akt eines interkulturellen Dramas. Wenn es glimpflich abgehen sollte, mußten zwei nicht kompatible Regelwerke, von denen keines mit Gewalt außer Kraft zu setzen war (es sei denn, man hätte die Gefangenen gleich umgebracht), so gestimmt werden, daß Spielraum für die Ausnahme entstand: eine Lage, in der nicht nur die Gefangenen frei wurden, sondern auch ihre Wärter so frei, sie ziehen zu lassen. Es waren, auf beiden Seiten, sensible Akteure nötig und ein Spiel mit unberechenbarem Einsatz, um das gute Ende herbeizuführen.
    Für die reale Geschichte war es weder typisch noch von Dauer. Es hat den Russisch-Japanischen Krieg (1904/05) so wenig verhindert wie jeden andern. Aber das Zeug zum Frieden bleibt auch in kleinsten Spuren ein kostbarer Stoff. Für meine Erzählung suchte ich eine Figur, die sich etwas daraus machte – ein Kleid, das er sich allerdings nicht anziehen konnte, ohne zugleich seine Blöße zu zeigen, und das heißt ja, seine eigene Menschlichkeit. Sie mußte sich, auf ihrer Japanreise, eine für mich selbst noch unabsehbare Verwandlung gefallen lassen.
    Ich kam wieder auf Hermann Ludwig Löwenstern. Er war nicht dabeigewesen. Was qualifizierte ihn dann zum Erzähler? Daß man nicht mitgefangen gewesen sein muß, um mitzuhangen. Löwenstern sei mein Zeuge,daß die Hoffnung auf den Menschen, soweit sie denn haltbar ist, sich nie halten läßt, ohne der Erwartung ihres Trägers zu spotten. Er darf von Glück reden, wenn sie ihn nur lächerlich macht, ohne daß er an ihr oder sich selbst verzweifeln muß. Nebenbei: Absenzen, Verspätungen und Versäumnisse, gerne durch Volksabstimmung legitimiert, gehören auch zur insularen Praxis meines eigenen Landes und bleiben immer vom Verdacht begleitet, etwas verpaßt zu haben. Nicht dabei(-gewesen) zu sein, ist, als Not- oder Glücksfall, eine historische Spezialität der Schweiz. Um das Thema romanhaft zu

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