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Loewenstern

Loewenstern

Titel: Loewenstern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adolf Muschg
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Mantel,
Yukata
genannt, mehr Überwurf als Kleid, der vorn mit einem schwarzen Baumwollgürtel gebunden wird. Darunter ist nur noch nackter Leib; unzweifelhaft mein eigener, denn ich fühle Hunger und Durst, Bedürfnisse, die ich stillen oder verrichten kann.
    Ich beobachte meine Hände. Mit den Stäbchen benehmen sie sich gar nicht ungeschickt.
    Die Standuhr hat nicht geschlagen, auch wieder zu ticken aufgehört. Als ich das Zifferblatt musterte, standen die Zeiger vor fünf. Ich habe mich beim Kauen ein wenig vergessen; reichte das schon, die Zeit stillstehen zu lassen? Dafür hörte ich von draußen – der Vorder-, nicht der Hofseite – Glockengeläut und dachte anfangs, es sei in meinen Ohren. Doch wenn ich sie zuhielt, verstummte es fast, mußte doch durch die Fenster hereingekommen sein, die eng sind wie Schießscharten. Krieche ich in die Öffnung, komme ich nicht weit, aber was ich durch den Schlitz erspähe, sieht Gebäuden ähnlich, einer Häuserreihe mit spitzen Dächern. Menschen sehe und höre ich nicht.
    Oft geschieht es, daß mich plötzliche Müdigkeit überwältigt; zum Bett würde ich es nicht mehr schaffen, sinke im Lehnsessel zurück, und wenn ich nach unbestimmter Zeit zu mir komme, verraten die Fenster nicht, ob es Tag ist oder Nacht. Aber wenn ich den Waschraum dunkel finde, verirre ich mich schon nicht mehr und fände den Weg auch blind, zum Abort oder in meine Trümmergrube. Doch liegt sie in einem schwachen Licht aus unbekannter Quelle, das mir reicht, ein paar Steine umzulagern.
    Komme ich zurück, so finde ich das Licht geschneuzt, das Geschirr abgeräumt und die Schale vor dem Fenster frisch besteckt: jetzt sind es Kastanienzweige mit drei rotblühenden Rispen, die in verschiedene Richtungen zeigen. Eine Bibel liegt auf dem Tisch, das einzige Buch, das man in der Kadettenschule auch Arrestanten gelassen hat; freilich nicht dieses pergamentgebundene Exemplar. Es stehen noch zwei andere Bücher da – ich rühre sie nicht an, doch die goldgeprägten Titel sind nicht zu übersehen: «Golownins Gefangenschaft in Japan», zwei hellrote Bände mit schwarzem Rücken. Sie geben mir einen Stich, und ich fühle, wie einen Phantomschmerz, ein verlorengegangenes Leben.
    Ich soll mich aber erinnern, wie es scheint. Denn es liegt ja auch Schreibzeug auf dem Tisch, Gänsekiele, Federmesser und Tinte; Papier in zwei Stößen. Auf dem einen steht am Kopf jedes Blattkopfs GRYLLENBURG in Antiqua. Der andere Stoß ist leeres Papier, nur das erste Blatt trägt einen Titel in kindlicher Schönschrift:
Gulliver in Japan
, zweimal unterstrichen.
    Und ja, da ist noch dieser Brief. Er war das erste, was mir ins Auge fiel, als ich mich, versuchsweise, zum ersten Mal an den Schreibtisch setzte. Noch nicht zu mir selbst gekommen, und schon erwartete mich Post.
An Wohlgeboren Baron Ludwig Hermann von Löwenstern. Mit der Bitte um gfl. Weiterleitung, d.G.
Der Brief war bereits geöffnet, das Siegel erbrochen, die Blätter zerlesen und das letzte kürzer; jemand mußte die Unterschrift weggeschnitten haben, und mit ihr das Datum. Aber die Hand erkannte ich auf der Stelle, besser als meine eigene; zum ersten Mal war sie mir auf dem Billett begegnet, das meine Kusine Löwenstern verschlampt hatte. Plötzlich stieg eine Welt vor mir auf und zitterte von Leben. Ich hielt den Schlüssel in der Hand, der die Tür zu meiner Geschichte aufspringen ließ. Aber ihr Licht war schmerzhaft, und ich schloß die Augen. Ich glaubte es nicht.

    Euer Wohlgeboren,
mir ist noch in lebhafter Erinnerung, wie Sie mich, gelegentlich Ihres Besuchs vor manchem Jahr, mit Ihrem Plan bekanntgemacht haben, eine Fortsetzungvon Gulllivers Reisen zu schreiben, und ich glaube, Sie damals, vielleicht zu leichtfertig, zu einer Reise in das ferne und verschlossene Nippon ermutigt zu haben. Nun hat sie Ihr Landsmann Golownin wirklich ausgeführt und teuer dafür bezahlt, freilich auch unschätzbaren Gewinn daraus gezogen. Seine «Gefangenschaft in Japan» hat mir zwei lehrreiche Abende beschert; dabei schloß sich die Lektüre aufs merkwürdigste den Versuchen mit entoptischen Farben an, die ich in jenen Tagen angestellt habe. Ich glaube, im Schicksal des verdienten Mannes, der so lange in Japan wie in einem undurchsichtigen Gefäß eingeschlossen war, ein Analagon zu einem Phänomen zu bemerken, das mir erst nach Publikation meiner «Farbenlehre» zum Erstaunen aufgegangen ist. Man zerschneidet eine mäßig starke Spiegelscheibe in mehrere

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